Früher begann die Woche mit einer Gnackwatschn. So auch heute.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 901

Armin Thurnher
am 05.12.2022

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Die Gefallenenrede des Perikles in der Sicht des Historienmalers Philipp von Foltz (1852) Bild: Wikipedia

Schon lange einmal wollte ich eine Woche mit der berühmten Gefallenenrede des Perikles beginnen, in denen dieser athenische Staatsmann vor 2500 Jahren die Vorzüge der attischen Demokratie rühmte. Der Text des Historikers Thukydides, der sie uns in seinem monumentalen Werk „Der Peloponnesische Krieg“ überliefert hat, ist seit ein paar Jahren in einer vorzüglichen Übersetzung von Michael Weißenberger zu haben. Die ersten Sätze des hier zitierten Absatzes lesen sich wie Gnackwatschen für unsere Repräsentanten, aber auch für uns, die wir es zulassen, so repräsentiert zu werden.

»Denn wir (die Athener, Anm.) sind Ästheten mit Augenmaß und wir sind Grübler ohne Entschlusslosigkeit; Reichtum nutzen wir, um zur rechten Zeit etwas damit anzufangen, und nicht um damit anzugeben. Und seine Armut einzugestehen ist für niemanden eine Schande. Nicht zu versuchen, ihr durch Arbeit zu entrinnen, schon eher. Ermöglicht ist denselben Menschen, sich um die eigenen zugleich und die alle betreffenden Angelegenheiten zu kümmern und, während jeder seiner Tätigkeit nachgeht, das alle Betreffende doch mit Sachkunde zu verstehen; denn wir sind die Einzigen, die einen, der sich hier ganz heraushält, nicht für friedlich, sondern für unnütz halten. Und selbst entscheiden oder durchdenken wir gründlich die Dinge, wobei nicht das Wort uns als Schaden für die Tat gilt, sondern eher, ohne zuvor durch das Wort belehrt zu werden, das Anstehende durch die Tat anzupacken.«

Sie alle kennen die Vorbehalte gegenüber der athenischen Demokratie, und warum sie mit der unseren nicht vergleichbar ist. Die geringe Zahl der Menschen, der Ausschluss von Frauen, die Sklavengesellschaft, auf der die stolze Freiheit aufruhte, der Ausschluss der Fremden – all das ist zu bedenken. Aber es ist auch zu fragen, was es in Anbetracht eines Sobotka bedeuten kann, sich zu rühmen, ein Ästhet mit Augenmaß zu sein? Sich überhaupt als führender Politiker an so wichtiger Stelle dazu zu bekennen, ein Ästhet zu sein? Das Nachdenken darüber würde nicht nur zur Verachtung des Übermuts von wildgewordenen Parvenüs wie Sobotka führen, die offenbar niemand mehr kontrollieren kann, und die jedes Augenmaß verloren haben, gerade weil sie sich wie Ästheten vorkommen. Es würde uns auch fragen lassen, wer von unseren führenden Repräsentanten sich mit Ästhetik überhaupt nur blicken lassen will und sie nicht nur ängstlich an Spezialisten delegiert? Leben wir stolz und dumpfbackig in einer Republik der Totalbanausen und Kleingeister?

Reichtum nutzen wir, um zur unrechten Zeit nichts damit anzufangen, außer ihn weiter denen zuzumessen, die ihn spekulativ in Finanzblasen jagen, um immer reicher zu werden. Auch hier ist uns das Augenmaß einer fairen Verteilung (die durchaus wohlerworbenen Reichtum zulässt) vollkommen verloren gegangen.

In Bezug auf Arbeit verhalten wir uns so töricht, dass es nur zu Debatten darüber kommt, welche Höhe die Sozialhilfen nicht erreichen dürfen, damit Menschen sich nur auf sie verlassen und nicht mehr arbeiten gehen. Statt dass wir die natürliche Frage stellen, wie viel die Arbeit eines Menschen wert ist, und wie hoch sie bezahlt sein muss, dass einer gar nicht daran denkt, sie gegen Sozialhilfe oder anderes arbeitsloses Einkommen zu tauschen.

Und wie steht’s um die Partizipation in einer Gesellschaft, die sich nur mehr mit der Lenkung und Ruhigstellung der Massen befasst, nicht aber mit der Frage, wie sie bestens zu informieren wären, wie man sie bestens motiviert und auch befähigt, an den allgemeinen Entscheidungen teilzunehmen, und nicht nur durch einmaliges Wählen in fünf Jahren? Und auch davon versuchen wir in den fortgeschrittensten Gesellschaften mit fortgeschrittensten digitalen Mitteln Menschen abzuhalten.

Und welches Wort belehrt uns? Welche Worte wollen uns überhaupt belehren und nicht bloß verführen, einlullen und belügen? Welche Medien fördert unsere Regierung deswegen, und welche bringt sie um?

Ich wünsche Ihnen eine schöne Woche mit Perikles. Im Übrigen bin ich der Meinung, die Republik muss die Wiener Zeitung retten.


Distance, hands, masks, be considerate! Ihr Armin Thurnher

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