Nummer 900: Die beste Idee, die ich in dieser Kolumne hatte.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 900

Armin Thurnher
am 03.12.2022

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Erstaunlich, was in den wenigen Jahren des Bestehens der Seuchenkolumne an Zerstörungen zu registrieren ist. Am erstaunlichsten sind die Fortschritte bei der Zerstörung des Öffentlichen, hier und anderswo. Mit Interesse kann man derzeit die Argumente verschiedener Menschen verfolgen, warum sie Twitter verlassen oder nicht. Ich selbst durfte bereits das Verdikt kassieren, ich hätte mich durch mein Bekenntnis, widerwillig dort zu bleiben, moralisch diskreditiert. Bloß weil ich nicht bereit bin, meine Arbeit, die ich für Musk geleistet habe, ganz ohne Vorteil für mich zu kübeln? Es stimmt, ich habe mich schon mit meinem Beitritt zu Twitter moralisch diskreditiert.

Ethisch war es eine Frage des Abwägens, so angenehm wie jene Frage, ob es besser sei, den Tod von Hundert Menschen in Kauf zu nehmen oder einen zu töten, um den Tod dieser Hundert sicher zu verhindern. In meinem Fall stellte sich die Frage , wie ich mich als Autor auf dem Markt präsent erhalte, weil heute öffentliche Aufmerksamkeit anders verteilt wird. Die Twitter-Probleme, die jetzt unter Musk deutlich sichtbar werden, waren zuvor genauso da. Man kann versuchen, sie mit Manieren und Distanzieren zu bekämpfen, nämlich mit Distanz von sich selbst und dem was der Lyriker Robert Schindel treffend „Ichgekeuche“ nannte; immer gutes Benehmen beizubehalten ist bei vielem, was einem da entgegenkommt, schwierig und doch unerlässlich.

Das Problem scheint mir recht einfach zu benennen. Man lässt sich auf ein unfaires Gegengeschäft ein: Man bringt seinen eigenen Aufmerksamkeitswert und seine tägliche Schinderei im Aufmerksamkeitsbergwerk ein (Musk auf!, der neue Twittergruß) und weiß nicht, was die Algorithmen des jeweiligen Dienstes mit den geschürften Werten machen. Ihre Funktionsweise bleibt im Dunkeln. In der Regel stiften sie alle Teilnehmenden an, mehr Aufmerksamkeit zu erreichen, befördern also sich selbst bestätigende Regelkreise, Provokationen, Lästerungen, Tabubrüche, ein Crescendo der Narren.


Es ist also nicht die böse Rechte oder der tückische Faschist, der das Klima vergiftet (er tut zwar sein Bestes), sondern der Algorithmus und die Zwecke der Medieneigentümer sind es, die das Ding so eingestellt haben, dass es automatisch in diese Richtung fährt. Es entgleist nicht, es nimmt nur mehr Fahrt auf. Mister Musk, der ungelenke Heizer, schaufelt beim Nachschippen meistens nicht in den Heizraum, sondern aufs Gleis.


Über die Alternative Mastodon, auf der auch ich neuerdings zu finden bin, mit der ich aber so wenig anzufangen weiß wie mit Facebook, las ich kürzlich, dort sei es wie bei einer Geburtstagsparty, wo vier Leute bei Kerzenlicht in einem Zimmer sitzen und traurig trockenen Kuchen essen, während nebenan die laute Twitter-Discoparty röhrt. Wann war eigentlich die letzte #deleteFacebook-Welle?


Unsere zuständigen Medienpolitikerinnen führen gern das Wort „Digitalisierung“ im Mund. Damit meinen sie aber nur, sie würden gern den marktmächtigen Tech-Riesen zuarbeiten. Sie meinen, wenn alle Menschen bei diesen Diensten wären, wenn diese Dienste unsere Daseinsvorsorge vom Kraftwerk bis zum Kühlschrank kontrollieren, wenn sie in den Schulen und in den Ämtern via Software bestimmen, was läuft und was nicht, dann wäre der Zweck erreicht. Dann wären wir so richtig modern. Dass sie sich und uns dann ausgeliefert haben, scheinen sie nicht zu bedenken. Dass sie sich zu Agentinnen der Gegenmoderne machen, scheinen sie nicht zu verstehen. Wahrscheinlich ist es ihnen einfach wurscht.


Analog zu solchem Denken sieht der ORF seine Erfüllung darin, von TikTok weggewischt zu werden und meint dann, bei neuen Generationen angekommen zu sein. Wie gekommen, so zerronnen. Worum es wirklich geht, das wäre doch, eine Social-Media-Struktur zu entwickeln, die eben nicht dem unbekannten, aber gemutmaßten Algorithmenmuster folgt, sondern den Zweck hat, eine freie, faire und grenzenlose Kommunikation zu ermöglichen. Dies zu beginnen ist das Gebot der Stunde, die Politik müsste es formulieren und alles dafür tun, dass die wesentlichen öffentlich-rechtlichen Akteure, vorerst der ORF und die Wiener Zeitung, Mittel und Möglichkeiten bekommen, so ein Projekt zumindest anstoßend zu formulieren. Alle Verleger, die bei Trost sind, müssten daran teilnehmen. Es müsste, es könnte, es würde ein europäisches Signalprojekt sein.

Ich habe das schon einmal gesagt, und es war die beste Idee, die ich in diesen 900 Kolumnen hatte. Im Übrigen bin ich der Meinung, die Republik muss die Wiener Zeitung retten.


Distance, hands, masks, be considerate! Ihr Armin Thurnher

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