Wie ich die Geschichte der Interpretation von Poesie veränderte.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 898

Armin Thurnher
am 01.12.2022

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Im Theater Kosmos Bregenz, 29.11.2022, von links: Jürgen Thaler, Armin Thurnher, Claus Pándi, der Rezitatorin Sabine Lorenz lauschend (von links) Foto: Kurt Fischer

Gestern Diskussiooon mit Claus Pandi, moderiert von Jürgen Thaler im Kosmos Kino in Bregenz. Ging einigermaßen würdig und unfallfrei zu Ende, wir bleiben bei unserem Prinzip, einander nicht als Exponenten unserer Medien zu betrachten, sondern als zwei Leser von Poesie, die zufällig aufeinandertreffen, um sich über Gedichte unterhalten, und dabei Politik so gut es geht vermeiden.

Ja, es ging um Lyrik. Die von uns beiden ausgewählten Gedichte wurden von der Schauspielerin Sabine Lorenz vorgelesen, klingend kamen sie zum Leben. Erstaunlicherweise erschienen hundert Menschen oder so (ich habe sie nicht gezählt). Unter ihnen meine Mutter, 103 und kregel, die mich am Morgen danach auf meine Frage, ob sie ihre Pillen schon genommen habe, mit dem Schüttelreim erfreute: „Ich gehe in den Birkenwald / und hoff die Pillen wirken bald.“

Ihre Schlagfertigkeit ist ein Trost für ihr geschwundenes Kurzzeitgedächtnis: das Langzeitgedächtnis funktioniert. Auch als Lyrikspeicher.


Zu den gestern Abend vermiedenen Themen gehörte das Auswendiglernen. Das Thema wurde nicht absichtlich vermieden, es ergab sich einfach nicht, obwohl wir noch im Vorgespräch mit dem Moderator darüber geredet hatten.

Mutter erzählte mir, in ihrer Klasse der Handelsschule habe das Auswendiglernen und Vortragen von Gedichten den meisten Schülerinnen Freude gemacht, ihr besonders. In meiner Jugend wurde Auswendiglernen eher als Strafaktion eingesetzt, auch als Lernhife, wenn es um Latein oder Griechisch ging. Den Anfang von Ilias, Odyssee und der Metamorphosen im Original hersagen zu können, war mir immer ein gewisser Trost, wenn er auch schwach war im Vergleich zu den Leistungen von Boris Johnson, einem studierten Altphilologen, der seitenweise aus der Ilias rezitieren kann.

Ich selbst bin auswendiglernmäßig faul, am Klavier und auch mit Gedichten. Ich muss das ändern. Gerade einmal ein Auden-Gedicht hätte ich im Original vortragen können, wäre ich danach gefragt worden. Dann hätte ich auch erzählt, was mir widerfuhr, als ich auf einem Ozeandampfer aus den USA zurückkehrte. Es wird im dritten Band meines bisher erst einbändig vorliegenden autobiografischen USA-Romans vorkommen, aber ich greife hier einmal vor. Ich fuhr mit dem Schiff zurück, weil ich 1967 mit dem Flugzeug hingeflogen war, ein Abenteuer, und ich war nicht sicher, ob ich es je wieder über den Atlantik schaffen würde. Es waren vorinflationäre Reisezeiten.

Ich erzähle das immer wieder gern, aber seit ich es hier erzählte, sind wieder ein paar Tausend Leserinnen dazugekommen, die kennen es vielleicht noch nicht:

„Als ich im August 1968 auf einem Ozeandampfer aus den USA zurückkehrte, jung, revolutionär, im sicheren Besitz einer neuen Wahrheit und einer neuen Welt, und mit Sicherheit ebenso dumm wie klug (Sicherheit macht immer dumm), saß ich jeden Abend am Tisch mit einem kaum mehr als zehn Jahre älteren englischen Literaturprofessor, der aus Harvard nach Oxford zurückkehrte. Seinen Namen habe ich vergessen, vielleicht stellten wir uns einander auch nicht formell vor, nicht aber einige unserer Konversationen. ,Wissen Sie‘, sagte er zu mir, ,ich lerne gerade Gedichte auswendig (I’m memorizing a stock of poetry), damit ich im Gefängnis, in das mich Leute wie Sie bald werfen werden, etwas zu meiner Unterhaltung habe. Sie werden mir gewiss auch meine Bücher wegnehmen.‘

Ich lachte das weg, denn ich wollte nicht wahrhaben, was damals – wie jetzt gerade – in China, Russland und sonstwo geschah, nämlich genau das, was er von mir befürchtete, während wiederum er die fundamentale Harmlosigkeit hinter unserem revolutionären Gehabe nicht durchschaute. Also unterhielten wir uns zivilisiert weiter. Blöd wie ich war, fragte ich ihn nicht näher nach dem Inhalt seines ,stock of poetry‘; den würde ich heute sehr gern kennen.“

Also vielleicht doch zurück zum Auswendiglernen? Es gibt viele Gedichte, die davon sprechen, dass uns etwas ausleert oder aussaugt. In Ingeborg Bachmanns rätselhaftem Poem „Was wahr ist“  erfährt man kaum etwas darüber, was wahr ist, wird aber produktiv irritiert, zum Beispiel durch den Satz  „was wahr ist … trinkt dich gänzlich aus.“

Die Social Media tun das. Sie leeren uns aus, ohne im geringsten wahr zu sein. Vielleicht ist die Hoffnung naiv, aber indem wir das eine oder andere auswendig lernen, füllen wir uns damit inwendig. Karl Marx lernte türkische Gedichte auswendig, ohne Türkisch zu können, um sein Gedächtnis zu trainieren. Das nützt neurologisch gesehen angeblich gar nichts.

Meine Mutter jedenfalls freut sich, dass ihr die eine oder andere Ballade geblieben ist.

Ich hatte das Gedicht „Chopin“ von Gottfried Benn vorgeschlagen, in dem sich der Dichter einerseits selbst porträtiert, andererseits aber über den „schwachen Liebhaber“ Chopin erhebt, er, der vielgeliebte (oder ist auch das eine Selbstanklage?). Dennoch rühmt er Chopins Kunst als vollendet.


Im Zug nach Bregenz war mir die Gratiszeitung Heute in die Hände gefallen, darin ein schlecht abgeschriebener Artikel über den englischen Fußballer Wayne Rooney, einen bekannten Rowdy und boxfreudigen Englishman, jetzt Trainer in der US-Soccer-League. Rooney habe in der Kabine seinen offenbar untermotivierten Männern zugerufen, er habe „trotz kleinem Penis immer den großen Mann“ auf dem Feld gegeben. Die Spieler seien nicht amüsiert gewesen, hieß es, ja „entsetzt“. Im englischen Original der Sun, es liest sich im Vergleich zur Nachdichtung in Heute wie die New York Times, stand „horrified“. Also sparte ich mir die Analogie Benn-Rooney, obwohl sie, hier nun doch vorgebracht, in der Geschichte der lyrischen Interpretation fortan ihren Fixplatz hat.


Distance, hands, masks, be considerate! Ihr Armin Thurnher

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