ÖVP und Fußball-WM – ethische Oasen, moralische Wüsten.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 888

Armin Thurnher
am 19.11.2022

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Ein Strand auf Katar

Wir verzeichnen derzeit einen Überfluss an Ethik. Davon fühle ich mich angesprochen, galt ich doch die längste Zeit als Moralist der österreichischen Presse. Ein vergessener kaufmännischer Direktor des ORF, der ÖVP angehörig und zugerechnet, trat einmal bei einer öffentlichen Gelegenheit auf mich zu und sprach: „Sie sind der letzte Moralist.“ Damals, im vergangenen Jahrtausend, war das als eine Art vergiftetes Kompliment gemeint. Es machte mich dennoch verlegen, denn ich hörte den Unterton: Wovon leben Sie eigentlich? Wie kommen Sie damit durch? Warum tun sie das, wenn sie auch Geld verdienen könnten?


Heute ist die Rede von Ethik weitverbreitet, Moral hingegen verkam zum politischen Vorwurf, vor allem in Gestalt des Moralisierens. Moralisieren bedeutet, in übertriebener Form andere zu moralischem Verhalten aufzufordern, wobei stets der – mitunter gewiss nicht unberechtigte – Vorwurf der Scheinheiligkeit mitschwingt. Moral verlangen die Moralisiernden von anderen, selber nehmen sie es mit ihr nicht so genau, sie haben sie ja.

Ein unglücklicher Zufall wollte es, dass die Fachhochschule Wien, an der ich jahrelang harmlos und folgenlos über Sprache und Stil referierte, eines Tages der Ansicht des ORF-Direktors zuneigte und mich bat, doch auch einen Kurs über Medienethik zu halten. Die Folgen waren entsetzlich und können noch heute in der Medienlandschaft besichtigt werden.

Ich selbst sah mich gezwungen, meine hauptsächlich aus der Lektüre der drei Karl (Marx, May und Kraus) abgeleiteten ethischen Vorurteile auf ein akademisches Fundament zu stellen und Fachliteratur über Medienethik zu lesen, deren Trockenheit kommende Klimakatastrophen aussehen ließ wie den ewigen Frühling im Paradies. Dann schon lieber Originaltexte, und für diesen Impuls bin ich der Hochschule dankbar.

Ich las also zum Beispiel Immanuel Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und mutete das auch meinem armen studentischen Publikum zu. Auch plünderte ich die empfehlenswerte Einführung in die Ethik der in Wien lehrenden Philosophin Herlinde Pauer-Studer , und erhielt von ihr selbst noch den Tipp, Kant in englischer Übersetzung zu lesen, was ich dann auch den am Original-Kant verzweifelnden Studierenden empfehlen konnte.

Jedenfalls ging es mir darum, nicht Ethik-Codices zu lehren, also Pflichtenkataloge, sondern Denken. Gleich am Anfang der Veranstaltung sagte ich, Moral, damit seien die moralischen Urteile, Ideale, Normen und Ideale in einer Gesellschaft gemeint. Moral gehe immer auf Handeln aus. Man müsse sein Handeln verantworten können und man dürfe durchaus andere zum richtigen Handeln auffordern, zum Beispiel Kinder, Studierende oder Redakteure.

Ethik hingegen ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Bereich der Moral, die Lehre von der Begründung moralischer Prinzipien, oder auch: die Reflexion über Moral.


Der ÖVP-Ethikrat definiert seine Aufgabe als die „Interpretation des ÖVP-Verhaltenskodex“; dieser wiederum ist eine Art Pflichtenkatalog, also ein Musterbuch dessen, was man als ÖVP-Politiker zu tun und zu lassen hat. Ein Ethikrat, der in einem Statement den Rausschmiss des Thomas Schmid empfiehlt, aber zugleich zur Formulierung findet, er begrüße die „klaren Formulierungen“ (contradictio in adjecto?) des Bundeskanzlers Nehammer, und damit dessen Satz meint, jene, die gefehlt hätten, müssten die Konsequenzen tragen (was mich sofort an den blöden Schulwitz erinnerte: Wer fehlt, soll aufzeigen), solch guter Ethikrat ist teuer, obwohl er gewiss wenig kostet.

Nähme dieser Rat seine eigenen Grundsätze ernst, hätte er den Ausschluss aller ÖVP-Mitglieder der Regierung Kurz allein ihres dokumentierten legalen Inseratengebarens wegen fordern müssen, heißt es doch im Kodex: „Bei der Inanspruchnahme öffentlicher Ressourcen wird ein strenger Maßstab der Bindung an die öffentliche Aufgabe und strikte Trennung von privatem Nutzen sowie der Sparsamkeit angelegt.“


Nachwort. Im Sinn des großen ÖVP-Ethikers Ernst Strasser („Ich lade Sie ein, umzukehren“), lädt uns nun die Fußball-WM zu einem globalen Moralinfarkt ein. Zu einem Moralisieren monumentalen Ausmaßes. Etwas, das als unmoralisch erkannt, durch Korruption zustande gekommen, durch Verbrechen am Bau gezeichnet ist, etwas, das der Menschenrechte und der Klimakatastrophe spottet und nun trotzdem Werbegeld und Publicity für Scheichs scheffelt, von denen wir nicht einmal unter Bedingungen des Kriegs eine Kanne Öl oder ein Schiff Gas geschenkt haben wollen würden, etwas, das uns nicht zwingt, aber verführt, heimlich oder offen dann doch hinzusehen, weil es eben Fußball ist – das ist schon die Spitze der Hinterfotzigkeit (ein Wort, das man im ÖVP-Kodex freilich vergebens sucht).

Es bringt aber unsere Welt und uns selber ganz schön auf den Punkt.


P.S.: Bei meiner Glosse  über Sobos Goldflügel (naturgemäß kein Fall für den Kodex) unterblieb der Hinweis, dass Christian Nusser den Skandal aufgedeckt und amüsant glossiert hatte.


Distance, hands, masks, be considerate! Ihr Armin Thurnher

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