Diesen Sonntag: Köchel ist Content

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 859

Armin Thurnher
am 15.10.2022

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Manchmal beginnt es auf der Bühne und endet in einer Kritik. Manchmal geht es umgekehrt. Als meine Namensvetterin Ingrid Thurnher, Direktorin der ORF-Radios im Team Weißmann, in einem Standard-Interview den Satz sagte, es brauche im Programm von Ö1 „mehr Content und weniger Köchel-Verzeichnis“, lärmte mein inneres Schweinsohr und gab einen schrillen Alarmton von sich.

Das ist ein Spruch wie aus der Giftküche der Message-Control, sagte das Schweinsohr, das ist eine ästhetische Kleinausgabe von „Ich habe die Balkanroute geschlossen“ oder „Wir werden niemanden anpatzen“, hier wird mit dem Dampfhammer eines wohlkalkulierten Merkspruchs die Einfallsbresche der marketingorientierten Barbarei in eine der letzten Bastionen der Kultur freigeschlagen.

Radio Ö1 gilt dem ORF und den Türkisen als eine Art journalistisches internes Widerstandsnest, das es auszuräuchern gilt. Dort wird, wie es Dominic Thiem ausdrücken würde, permanent Schaden angerichtet, sei es in der jingle-armen Welt der Klassik oder jener der nervtötenden Neutöner oder der interventionsresistenten Welt der politischen Magazine. Den Druck, den die betroffene türkise Kamarilla ausübt, möchte man nicht als Noise Music hören. Und natürlich haben sie es nicht so gemeint und sind jetzt ganz betroffen.


Das gallische Dorf hat viele Verbündete, und die haben sich, als wäre die Schattenhand des homo aestheticus am Werk, geordnet und treffen einander am Sonntag Abend in der Roten Bar des Volkstheaters, um in einer Widerstandslesung mit verteilten Rollen das Köchelverzeichnis vorzutragen. Es sind Menschen aus allen kulturellen Sparten, von Hoch- bis Gegenkultur, die zu diesem Zweck ein paar Stunden lang reihum die Titel der Werke des Wolfgang Amadeus Mozart vorlesen werden.

Es wird sicher lustig und vor allem effektiv: die Küniglbergspitze zittert bereits und stößt autoritäre Drohungen aus, nach dem alten Muster: wollts eichan prekären Job ghoitn oder liaba die Goschn hoitn? Ich plädiere unter allen Umständen für Job hoitn, und freue mich, zu einem Zeitpunkt, da sich mein Lebenswerk dem Punkt der Reife nähert, persönlich auf derlei Rücksichtnahmen scheißen zu dürfen.

Köchelverzeichnis, 3. Ausgabe 1937 (Reprint 1989), Seite 472

Empfehle den aktiven Verantwortlichen, den Testamentsvollstreckerinnen des Systems Kurz, die gerade die Wiener Zeitung umzubringen versuchen und die Axt an Ö1 legen, FM4 nicht zu vergessen, die einschlägigen Mozart-Kanons KV 382, c und d.


Wer war Herr Köchel, und was meinen wir mit Köchelverzeichnis?

Ludwig Alois Friedrich Köchel, geboren zu Stein a.d. Donau, Niederösterreich, am 14. Januar 1800, war der Sohn eines fürstlich passauischen Kastenverwalters daselbst, studierte Rechtswissenschaft und wurde Erzieher verschiedener Erzherzöge, der Söhne des Erzherzogs Karl. In den Ritterstand erhoben und materieller Sorgen ledig, betätigte sich Köchel als Naturforscher, Botaniker und Mineraloge, aber auch als „tüchtiger Humanist und Musikkenner“. Seine Reise in botanischen und mineralogischen Dingen führten ihn durch ganz Europa, in speziellen musikalischen Fragen nach Deutschland, Frankreich und England (1859-1862), nach Italien und Sizilien (174). So steht es im Vorwort des Köchelverzeichnisses, und auch: „Durchglüht von echter Frömmigkeit, suchte er den Lohn für seine Tätigkeit in der Befriedigung seines lauteren Herzens; er war mit einem Wort ein edler Mensch.“ Als solcher veröffentlichte er 1862 das „Chronologisch-thematische Verzeichnis sämtlicher Tonwerke W. A. Mozarts“, aber auch einen Band Gedichte.

Das Köchelverzeichnis, von dem wir heute reden, ist nicht mehr Köchels Werk allein, sondern dessen gründliche 1937 erschienene Überarbeitung vor allem durch den überragenden Mozartforscher Alfred Einstein, den die Nazis naturgemäß in die USA vertrieben (sein Köchelverzeichnis erschien unter seinem Namen mit einer Sondergenehmigung der Reichsschrifttumskammer, obwohl Einstein bereits emigriert war). Er attestierte Köchel eine Ehrlichkeit, die ihn nicht an Dinge rühren ließ, die er nicht verstand; zugleich sei Köchel eben kein Musiker gewesen und habe weder Autographen noch Erstausgaben besonders ernstgenommen, darin trotz aller historischer Sorgfalt ein Kind seiner Zeit. (1964 erschien eine nächste Überarbeitung, eine weitere ist in Entstehung, aber noch nicht publiziert.)

Am Ende seiner Arbeit, nach elf Jahren Forschung in Archiven in aller Welt, notierte Einstein in seinem umfangreichen kritischen Vorwort zum neuen, dritten Köchelverzeichnis: „Gelöst werden konnte die Aufgabe nicht vom bloßen Kenner der Autographen und Ausgaben, sondern nur vom Kenner des Werkes … Den Lesern oder Benützern, die Sinn und Witterung haben für diesen herrlichen Zusammenhang der Werke des größten, reinsten und wunderbarsten Ingeniums in der Musik, ist der neue ,Köchel‘ gewidmet. Die Arbeit war eine Arbeit der Entsagung, aber auch tiefster Freudigkeit. Sie trägt ihren Dank und ihren Lohn in sich selbst.“


So, Frau Thurnher, hat man einst über das Köchelverzeichnis gesprochen.

Vielleicht denken Sie kurz darüber nach.

Zirka elf Jahre wären angemessen.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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