ARMIN THURNHER —
14.10.2022
Darf ich Ihnen eine Anekdote erzählen? In der Marc-Aurel-Straße war, als der Falter dort hinzog, Mitte der 1980er Jahre, noch etwas vom Textilviertel zu spüren. Jüdische Damen und Herren waren vor oder in ihren Geschäften (die Damen in, die Herren vor) zu sehen und zu hören. Da gab es den legendären Herrn Doft, aber von dem erzähle ich heute nichts. Und es gab den etwas weniger legendären legendären Herrn Schnarch, der sich damals schon etwas schwer bewegte, wenn er seinen Pintscher Gassi führte, aber bei mir ziemlich hohen privaten Legendstatus genießt. Das kam so.
Herr Schnarch besaß einen stattlichen, geräumigen Volvo. In der Marc- Aurel-Straße waren die Parkplätze knapp. Während ich mit dem leutseligen Herrn Doft gern das eine oder andere Wort wechselte – der war schließlich „Philosoph“ und sparte auch mir gegenüber nicht mit Lebensweisheit – blieb Herr Schnarch stumm. Die beiden wussten wie allen anderen selbstverständlich ganz genau, was diese jungen Sonderlinge (wir) da in dieser renoviertem Hemdenfabrik im ersten und zweiten Stock trieben.
Umso mehr verdutze es mich, als Schnarch, neben seinem in zweiter Spur stehenden Volvo stehend, eines Tages das Wort an mich richtete.
„Ich höre, Sie machen eine demokratische Zeitung“, sagte er, und sah dabei streng, aber nicht unzufrieden aus.
„Wir versuchen es“, anwortete ich, gespannt auf die Fortsetzung dieser Eröffnung. Schnarch setzte mich matt in einem Zug.
„Können Sie mir mein Auto einparken?“, sprach er und reichte mir den Schlüssel.
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Ich höre, Sie interessieren sich für Kritik. Wissen Sie was? Ich auch. Ich werde versuchen, in loser Folge diesem Thema den einen oder anderen ungekampelten Gedanken zu widmen. Die erste Folge ist hiermit schon wieder vorbei. Fast. Denn ich widerstand der Versuchung, das Buch Sebastian Kurz fristgerecht zu besprechen, also niederzumachen.
Sollte nicht gerade ich im Wettlauf der Praecox-Geschlagenen mittun und versuchen, das Wettrennen um die erste erscheinende Kritik des Sebastian-Kurz-Buchs zu gewinnen, das mit seiner helle-Seiten-der Politik, dunkle-Seiten-der-Politik-Vorankündigung an die Ildefonsowerbung von einst erinnert (heller Nougat, dunkler Nougat) und verspricht, ein besonderes Leckerli zu werden? Das Wort „Feschismus“ kommt im Buch nicht vor, wie eine Blitzkontrolle ergab.
Muss also nicht sein. Kritik ist das Gegenteil von Reflex. Reflexe kann man trainieren, die braucht man für alles Mögliche. Gute Kritik kann schnell sein, muss es aber nicht. Kritik bestimmt ihr Tempo selbst und lässt es nicht von anderen bestimmen, weder von Verlagen, von der Konkurrenz um Reichweite, Likes oder Quote. Kritik hat keine heißen Ohren, legt aber gern eine Nachdenkpause ein, ehe sie sich verlautbart. Kritik ist nachdenkpausbäckig. Kritik behält ihren Cool.
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Distance, hands, masks, be considerate!
Ihr Armin Thurnher
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