Erkenntnistheorie kann uns jetzt nicht retten!

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 853

Armin Thurnher
am 08.10.2022

Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:

Heute zeigt Epidemiologe Robert Zangerle eine neue Seite: er reflektiert das Problem, warum das Vertrauen in die Wissenschaft abnimmt. Weiters unterzieht er Gesundheitsminister Rauch einer Inhaltskritik, berichtet über die Wirkung von Impfstoffen und die Entwicklung der Bettenbelegung in Spitälern. denn, auch wenn man es nicht gerne hört: das Infektionsgeschehen ist hoch! A. T.

 »Das schwindende Vertrauen der Bevölkerung in Regierung und Wissenschaft (Nobelpreis von Anton Zeilinger ist da nur eine vorübergehende Bremsung) wurde in den letzten Jahren besonders deutlich – von der generellen Impfstoffskepsis über die Leugnung von Klima- und Pandemieschäden bis hin zu Franken-Verschwörungen. Man könnte eine Epidemie von falscher Logik und Fehlinformationen vermuten, die größtenteils auf mangelndes Wissen und fehlerhaftes Denken seitens der Menschen zurückzuführen ist. Diese Sichtweise ignoriert jedoch die entscheidende Rolle sozialer und politischer Faktoren beim Entstehen und beim Verlust von öffentlichem Vertrauen. Vertrauen ist ebenso eine moralische und politische Angelegenheit wie eine erkenntnistheoretische. Vertrauen wird nicht durch reine Faktenüberprüfung geschaffen.

Man muss über das populäre „Wissensdefizit-Modell“ der Anti-Wissenschafts-Stimmung hinausgehen, welches eine einseitige Beziehung zwischen sachkundigen Experten und einer unwissenden, belehrungsbedürftigen Öffentlichkeit unterstellt. „Anstelle des engen Ziels der Förderung wissenschaftlicher Kompetenz, sollten wir das umfassendere Ziel der Erleichterung der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und Bürgern ins Auge fassen“, schreiben die beiden Philosophinnen Catarina Novaes und Silvia Ivani in ihrem Artikel The Inflated Promise of Science Education. Trotz konzentrierter Anstrengungen in wissenschaftlicher Bildung und deren Verbreitung zeigen regelmäßige Erhebungen über das Verständnis der Öffentlichkeit und ihre Einstellung zur Wissenschaft, dass sich die wissenschaftliche Kompetenz im Laufe der Jahre nur wenig bis gar nicht verändert hat. Insbesondere in Bezug auf Impfstoffe haben sich Maßnahmen, die auf der Bereitstellung wissenschaftlicher Beweise zur Widerlegung von Impfmythen beruhen, als weitgehend unwirksam erwiesen.

Die Bedeutung der Demokratie für die Festigung des Vertrauens der Bevölkerung in öffentliche Gesundheit spielt eine wesentliche Rolle. Statt technokratischer Hybris brauchte es robuste neue Formen demokratischer Bescheidenheit: institutionelle Mechanismen – einschließlich einer stärkeren Bürgerbeteiligung – um Erinnerungen, Erfahrungen und Gerechtigkeitsanliegen in Politikkonzepte einbeziehen zu können, fordert Shelia Jasanoff, Professorin für Science and Technology Studies an der John F. Kennedy School of Government der Harvard Universität. „Zahlreiche Länder waren unmittelbar vor der Covid Pandemie bezüglich Pandemie-Bereitschaft anhand technokratischer Kriterien, sehr gut aufgestellt‘. Dann aber kam Covid, und zwei Länder, die besonders gut aufgestellt schienen, haben die Pandemie schlecht bewältigt: Großbritannien und USA. Pandemie-Bereitschaft“ („Preparedness“) wird die nächste Pandemie also nicht aufhalten.

Diese Fragen gehen weit über den Bereich der Wissenschaft und der öffentlichen Gesundheit hinaus und naturgemäß wesentlich weiter als der Seuchenkolumnist denken kann. Sie spiegeln den aktuellen Zustand der Politik wider, die soziale Probleme auf individuelle Probleme reduzieren will. Isolde Charim weitete im FALTER diese Beschreibung noch aus, als sie die Aufhebung der Isolationspflicht mit einem Fähnchen im Wind gegenüber Querdenkern und Unternehmern verglich. Einer „„Allianz“, die „nur auf den ersten Blick erstaunlich ist“. „Tatsächlich fanden sie sich in dem, was man Neoliberalismus nennt – dem einen seine persönliche, Freiheit‘, dem anderen sein persönlicher Gewinn. Allerdings einmal mit Anführungszeichen – und einmal ohne. Denn der Gewinn ist real. Als Querdenker könnte man nun ein Gefühl von Sieg haben – angesichts der Privatisierung der Krankheit, angesichts der Vereinheitlichung des öffentlichen Lebens in diesem Sinne. Könnte man – würde sich dieser Sieg nicht einem bestimmten Umstand verdanken. Dem Umstand nämlich, dass ihre Intentionen ungewusst mit den Interessen der Unternehmer übereinstimmten. Sie haben also deren Geschäft betrieben. Im wahrsten Sinne des Wortes.“

Die Verschwörungserzählungen der Querdenker sind auch nicht einfach nur „schlechte Informationen“ sondern entsprechen einer „existenziellen Angst“, die sich nicht auf „kognitive Defizite“ reduzieren lässt, wie Nicolas Guilhot, Professor für Ideengeschichte am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz (und Fiesole) argumentiert. Die Lösung liegt nicht in der Überprüfung von Fakten, in Seminaren über logische Irrtümer oder in der Kritik an einer „fehlerhaften Erkenntnistheorie“. Stattdessen muss „der Mangel an politischer Vision angegangen werden, von dem sich der Verschwörungserzähler ernährt“. Die Politik ist dafür mehr verantwortlich als die fehlerhaften Überlegungen Einzelner.

So viel zum Vorspann, um die Pandemiepolitik der Regierungen in Bund und Land ein wenig zu beleuchten. Der Punkt dabei ist ja nicht, dass es gilt, deren Verschwörungserzählungen aufzudecken oder gar die Lehren hervorzuheben, die nicht gezogen wurden. Nein, das Festhalten am konzeptlosen KöchelkonzeptSeuchenkolumne November 2020) das Österreich durch die Pandemie führte und führt, lässt zwar viele verständnislos zurück, entspricht aber einem nicht ganz ausgegorenen Vertreten von Partikularinteressen. Die Festigung der Macht in der Politik haben meist nicht diejenigen, die die beste Antwort auf eine Frage haben, sondern diejenigen, die entscheiden können, wie über welche Fragen diskutiert wird. So entsteht Deutungshoheit Hier dreieinhalb Beispiele von Erzählungen, die Gesundheitsminister Johannes Rauch in einem ZiB2 Interview vom 4. Oktober bediente, die einem Faktencheck nicht standhalten und trotzdem, eben je nach Interessenslage, als politische Erfolge gewertet werden können. Hier der vollständige Auszug aus einer Passage des Interviews :

Punkt 1: …, aber es geht schon auch darum, wie viele Menschen liegen in unseren Spitälern, mit Corona oder als Nebendiagnose Corona.

Es ist davon auszugehen, dass Gesundheitsminister Rauch, als langjähriger Politiker in hohen Ämtern, weiß, was Sache ist. Er weiß also, dass es im Kontext mit der Arbeitsbelastung im Krankenhaus kaum eine Rolle spielt, ob jemand mit oder wegen Corona im Spital ist. Der Arbeitsaufwand ist annähernd der gleiche (Isolation, besondere Besuchsregelung). Gleichzeitig weiß er auch, dass praktisch sämtliche Medien von Bodensee bis Neusiedlersee ins gleiche Horn blasen und vorgaukeln, dass bei den Fällen mit Corona praktisch kein besonderer Arbeitsaufwand entstehe. Mit dieser Erzählung haben sich viele Krankenhäuser selbst belogen und baden nun ihre Trickserei selber aus.

Aus dem internen Protokoll der Coronakommission („Ampelkommission“) vom 6. Oktober: „Der Vertreter aus XY (von Seuchenkolumne anonymisiert) hebt hervor, dass in der medialen Kommunikation betont werden muss, dass auch bei COVID-19 als Zusatz- oder Nebendiagnose der Aufwand im stationären Bereich viel höher ist als bei non-COVID-Patientinnen/Patienten.

Punkt 2: „Ich habe, das ist die Verfassung, es muss die Angemessenheit der Maßnahmen gegeben sein und die Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit bemisst sich am Belastungszustand des Gesundheitssystems.

Hier argumentiert Gesundheitsminister Rauch zwar vage, aber im Vergleich zu den Vertretern des Wintertourismus (Landeshauptleute, Seilbahnvertreter, Funktionäre des Tourismus und andere) im Jänner des Jahres sogar nuancierter. Belastungszustand des Gesundheitssystems: Immerhin, nicht mehr die Intensivstationen allein. Als die Intensivstationen, die nicht nur von den Touristikern als alleiniges Kriterium ständig und penetrant vorgeschoben und wiederholt wurden, besaß das immer den manipulativen Spin, dass ohne eine drohende Überlastung der Intensivstationen der rechtliche Rahmen für die Aufrechterhaltung von Einschränkungen abhandengekommen sei. Diese unhaltbare Erzählung wurde und wird weit verbreitet aufrechterhalten, inzwischen halt mit den „mit Corona“ im Spital Befindlichen. Kritische Medien? Ach, bis Weinachten ist noch eine Zeit hin. In dem dahinterstehenden Gesetz (COVID-19-Maßnahmengesetz) für die maßlos vielen Verordnungen (COVID-19-Maßnahmenverordnung, COVID-19-Notmaßnahmenverordnung und COVID-19-Schutzmaßnahmenverordnung) wird die Bewertung der epidemiologischen Situation („epidemiologische Notlage“) wesentlich umfassender beschrieben:

Nix mit der Mär von den Intensivstationen. Nicht erwähnt wird in solchen Rechtsvorschriften die enorme Last selbst durch weniger schwere Erkrankungen bei Masseninfektionen und die daraus resultierenden Folgen wie Ausfälle bei Arbeit und Schule. Und die nicht seltenen längerfristigen Folgen der Infektion (Long Covid oder post-acute Covid syndrome – PACS). Jedenfalls können mit dem geltenden COVID-19-Maßnahmengesetz weitere Maßnahmen begründet werden. Gedanken zu Maskenpflicht, Selbstisolation nach Testung (das freiwillige Freitesten gehört dazu!) und Home Office finden sich in der letzten Seuchenkolumne. Dass der Verfassungsgerichtshof gesetzliche Bestimmungen zur Einführung von Maßnahmen zum Teil aufgehoben hat, lag fast ausschließlich an der mangelnden Begründung durch den Gesetzgeber. Eine immer noch nicht nachvollziehbare Gesetzgebung mit ungewöhnlicher Schlamperei; die Absicht bestimmter Kreisen kann nicht ausgeschlossen werden.

3. Punkt: „Der Punkt, um Ihre Frage zu beantworten, ist dann gekommen, wenn ich den Eindruck habe, entlang der Zahlen, ich bin im Austausch mit den Krankenhäusern, dass dort die Situation eskaliert, bedrohlich wird, ein Notstand eintritt, dann ist der Zeitpunkt, die Maskenpflicht wieder einzuführen.

Zum Zeitpunkt des Interviews lagen 1863 Covid-Patienten im Krankenhaus, ein Wert, der am 15. April d.J. zum letzten Mal höher lag. Von Abwasserdaten und Positivitätsrate (auch Fallzahlen) her musste man zum Zeitpunkt des Interviews von einem weiteren Anstieg der Spitalsbelegung ausgehen, das war auch Gesundheitsminister Rauch bewusst. Er führt das konzeptlose Köchelkonzept der österreichischen Bundesregierung fort. Österreichische Realpolitik des laisser faire, mit der bisherigen Einschränkung, die intensivmedizinische Versorgung nicht schwerwiegend und anhaltend zu überlasten. Jetzt käme halt die Omikron-typische Einschränkung dazu, dass die allgemeine Bettennot so groß würde, dass Leistungen zurückzufahren wären. Dazu braucht es nicht einmal eine Verdoppelung der bisherigen Spitalsbelegung. Das ist nicht unwahrscheinlich, wenn man sich die geringe Rate der Auffrischimpfungen bei den Ältesten vor Augen hält.

Das weitgehende Einverständnis Österreichs Verantwortlicher für das „konzeptlose Köchelkonzept“ in der momentanen Situation und dem dräuenden Herbst überlässt das Handeln dem handlungsunwilligen Gesundheitsminister. Selbstverständlich ist den Gesetzen nicht zu entnehmen, dass es auf den persönlichen Eindruck des Ministers ankäme. Das ist eine originelle Privatmeinung von einem im Russ-Land sozialisierten Politiker. Wieso antwortet der Gesundheitsminister so? Cui bono? Rauch fährt sicher keine Linie gegen die Regierung. Gibt es einen Kuhhandel mit dem Koalitionspartner? Leckerlis? Rückendeckung von den Grünen hat er jedenfalls, besonders eindrucksvoll vom uneindrucksvollen Bereichssprecher für Gesundheit.

Letztlich eine unerträgliche Wiederholung dessen, was früher schon mehrfach passierte. Anfang November 2021 schrieb mir eine renommierte Covid-Behandlerin: „Das stillschweigende Einverständnis der Regierung, dass man es auf die Maximalauslastung und Belastung des Krankenhauspersonales ankommen lässt, als Maßband für eine Reaktion ist nach allem, was wir für die Gemeinschaft getan haben, schon eine starke Ansage.“ Das stand dann auch in der Seuchenkolumne Die Versäumnisse der Politik. Und ihre nicht eingestandenen Absichten vom 6. November 2021  (Lockdown an 22. November).

Auch die quantitative Angabe des Gesundheitsminister, dass etwa die Hälfte mit und nicht wegen Corona im Spital aufgenommen wurde, soll hier nicht hinterfragt werden, auch nicht qualitative Aspekte der Quelle dieser Daten („Covid-Datenregister“). Das geschieht seit langem in mehreren Kolumnen, hier  und hier vom Anfang des Jahres. Nur so viel: Auch wenn nicht Covid-19 die primäre Ursache für die Hospitalisation war, kann ein Zusammenhang nicht ausgeschlossen werden. Zudem können Patienten aus einem anderen primären Grund ins Spital eintreten und im Verlauf ihres Spitalaufenthalts Komplikationen aufgrund von Covid-19 bekommen. Und zum Spitalsregister ein rezentes Zitat der Coronakommission („Ampelkommission“): „Die mittlerweile vermehrte Einmeldung in dieses Register wird begrüßt, es wird jedoch weiterhin diesbezüglicher Optimierungsbedarf gesehen“.

Heute soll auf eine ganz andere Folge der seit Omikron zugenommenen Fällen von Spitalspatienten mit Corona hingewiesen werden. Ergebnisse einiger Studien zeigen, dass die Bewertung und Interpretation der Wirksamkeit der Covid-Impfstoffe gegen Krankenhauseinweisungen komplizierter geworden ist, seitdem die Omikron-Varianten dominieren und die Bevölkerungsimmunität durch Impfungen und Infektionen stark zugenommen hat. Die Belege für den Schutz vor schweren Erkrankungen sind uneinheitlich: Einige Studien deuten darauf hin, dass die Wirksamkeit gegen Krankenhausaufenthalte im Vergleich zur Delta-Variante auch mit einer dritten Dosis deutlich geringer ist, während andere Studien eine sehr hohe Wirksamkeit von über 90% belegen. Wenn die Krankheit weniger schwerwiegend ist, ist ein höherer Anteil der Krankenhauseinweisungen wahrscheinlich auf COVID als Zufallsbefund zurückzuführen und nicht auf die Ursache der Krankenhauseinweisung. Dies gilt für Omikron im Vergleich zu Delta und für jüngere Erwachsene im Vergleich zu älteren Erwachsenen. Die Kontamination der Krankenhauseinweisungen mit diesen „zufälligen“ Fällen scheint zu niedrigeren Schätzungen der Wirksamkeit des Impfstoffs gegen Krankenhauseinweisungen zu führen, die wahrscheinlich eher die Wirksamkeit des Impfstoffs gegen Infektionen widerspiegeln. Die Schätzungen der Impfstoffwirksamkeit verbessern sich, und die Abnahme ist begrenzter, wenn Definitionen von Krankenhausaufenthalten verwendet werden, die spezifischer auf schwere Atemwegserkrankungen ausgerichtet sind.

Die Wirksamkeit der Impfung je nach Definition der Krankenhausbehandlung wurde aufgrund einer Vorveröffentlichung bereits Ende März vorgestellt, jetzt ist diese Studie begutachtet erschienen. Bei den 18- bis 64-Jährigen, die über die Notaufnahme aufgenommen wurden, erreichte die Wirksamkeit der Impfung (WI) nach der dritten Dosis einen Spitzenwert von 82,4% und sank bis 15+ Wochen nach der dritten Dosis auf 53,6%: Bei allen Aufnahmen mit einem Aufenthalt von mehr als 2 Tagen und einem Atemwegscode in der Hauptdiagnose reichte die WI von 90,9% bis 67,4%; bei einer weiteren Einschränkung auf Personen, die mit Sauerstoff beatmet auf der Intensivstation behandelt wurden, reichte die WI von 97,1% bis 75,9%. Bei den über 65-Jährigen lagen die entsprechenden VE-Schätzungen bei 92,4% bis 76,9%, 91,3% bis 85,3% und 95,8% bis 86,8%. Man kann sehen, dass eine Einschränkung auf schwere Atemwegserkrankungen bei Personen mit SARS-CoV-2 Infektion zeigt, dass die WI höher ist und auch langsamer abfällt. Die geringere WI bei Jüngeren machte aber sehr wahrscheinlich, dass das Auseinanderdröseln der „wegen“ und „mit“ Corona, aufgrund unterschiedlicher Definitionen von Krankenhausaufenthalten, Grenzen hat. Es ist davon auszugehen, dass Jüngere mehr „mit Corona“ im Krankenhaus behandelt werden, selbst wenn spezifische Definitionen von Krankenhausaufenthalten verwendet wurden.

Ein Rückgang der WI vor schweren Erkrankungen nach 15+ Wochen von 95,8% auf 86,8% Effektivität klingt nach wenig Verlust und wird deshalb als nicht wichtig gewertet, ist es aber. Dieser Rückgang verdreifacht das Risiko (von 4,2 auf 13,2). Wenn das Risiko sehr, sehr klein ist, ergibt eine Verdreifachung kaum etwas und der absolute Wert bleibt klein. Wenn das Risiko für eine schwere Erkrankung aber schon 1% beträgt, dann ist eine Verdreifachung zu 6% absolut beträchtlich und alle die das beträfe sollten sich umgehend den Herbstbooster holen.

Der Schutz gegen schwere Erkrankungen bleibt weitgehend erhalten, allerdings gibt es kaum Daten über die Dauer des Schutzes vor schweren Erkrankungen über 6 Monate hinaus. Der Schutz vor nicht-schweren symptomatischen Verläufen hingegen ist viel schwächer ausgeprägt. Studien deuten darauf hin, dass neutralisierende Antikörper in erster Linie für die Blockierung des Erwerbs einer SARS-CoV-2-Infektion verantwortlich sind, dass aber sowohl Antikörper- als auch T-Zell-Reaktionen für die Verhinderung einer schweren Erkrankung entscheidend sind.

Die derzeitigen Impfstoffe bieten nur einen bescheidenen Schutz gegen die Infektion und die Übertragung mit der Omikron-Variante, selbst bei maximaler Immunität nach der Auffrischung. Darüber hinaus ist es wahrscheinlich, dass neutralisierende Antikörpertiter wesentlich höher sein müssen, um vor einer Infektion mit der hochgradig übertragbaren Omikron-Variante zu schützen, als dies für den Schutz vor Infektionen mit früheren Varianten erforderlich war. Im Gegensatz zu den neutralisierenden Antikörpern sind die durch den Impfstoff induzierten T-Zell-Reaktionen hochgradig kreuzreaktiv gegen Omikron und tragen wahrscheinlich wesentlich zum Schutz vor schweren Erkrankungen bei.

Die hybride Immunität aus Impfung und Infektion bietet einen stärkeren und dauerhafteren Schutz als eine der beiden allein. Das bestätigt gerade ein vorveröffentlichter (noch nicht begutachteter) Überblick (Metaanalyse) von der WHO finanziert. Die dunklere, blaue Linie (3 Impfungen und eine Infektion) hat über sechs Monate eine sehr hohen und wenig nachlassenden Schutz vor Hospitalisierung oder schwerer Erkrankung (Abfall von 98% auf 95,3%). Die dunklere rote Linie repräsentiert 3 Impfungen ohne Infektion, sie zeigt niedrigere Wirksamkeit bei Infektion jeglicher Art oder schwerer Erkrankung, und bei schwerer Erkrankung auch eine stärkeren Abfall über die Zeit.

Die Reihenfolge und der Zeitpunkt zwischen Impfung und vorheriger Infektion für die hybride Immunität wurden in dieser Metanalyse nicht berücksichtigt. Es gibt auch noch andere Einschränkungen, hier aber sollte Prinzipielles gezeigt werden. Der Seuchenkolumnist hält das für besonders wichtig, zumal eine Diskussion aufbrandet, dass bei zukünftigen Subvarianten/Sublinien die Impfung keine Wirkung mehr zeigen wird. Das kann natürlich auch noch nicht durch epidemiologische Daten erhärtet werden. Neu auftretende Subvarianten haben eine Kombination von Mutationen, die sie immun-ausweichender denn je macht. Es ist dieselbe Herausforderung, vor der auch Erkältungen und Grippe jedes Jahr stehen: nämlich ein Comeback zu schaffen. Einer dieser Stämme, BA.2.75.2, scheint sich eher in Asien auszubreiten, und die sich aus BA.5 entwickelte Subvariante BQ.1.1 eher in Europa (bisher auch 4 Fälle aus Österreich). Trotz ihrer unterschiedlichen Ursprünge haben mehrere der neuen Stämme eine ähnliche Kombination von Mutationen gefunden, die ihnen helfen, die Mauer der Immunität zu überwinden – ein eindrucksvolles Beispiel für konvergente Evolution.

Um schnell feststellen zu können, wie gut sich eine neue Untervariante der Immunität entziehen kann, stellen Forscher Kopien der Spike-Proteine der Viren her und setzen sie monoklonalen Antikörpern oder dem Serum von Menschen aus, um zu messen, wie gut die Antikörper die Varianten daran hindern können, Zellen zu infizieren. Mit Hilfe solcher Tests haben Forscher in China und Schweden herausgefunden, dass das Spike-Protein von BA.2.75.2 fast allen monoklonalen Antikörpern, die zur Behandlung von Covid eingesetzt werden, wirksam entgehen kann, was darauf hindeutet, dass diese Behandlungen tatsächlich nutzlos werden könnten. Darüber hinaus fanden beide Gruppen auch heraus, dass Antikörper von Menschen mit Impfung und/oder Infektionen BA.2.75.2 im Vergleich zu BA.5 kaum mehr wirksam neutralisieren können. Das Team aus China fand zudem heraus, dass auch BQ.1.1eine ähnlich auffällige Fähigkeit hat, Antikörpern zu entgehen.

Namhafte Forscher wendeten aber ein, dass es noch zu früh und unbekannt ist, ob eine neue Omikron-Subvariante oder Sublinie von Omikron die Oberhand gewinnen und somit eine neue Infektionswelle verursachen wird. Die Immunität der Bevölkerung sei inzwischen so hoch, dass eine Variante möglicherweise nicht mehr so einfach die Oberhand gewinnen kann, bedingt durch die inzwischen vielfältiger und stabiler gewordenen T-Zell-Abwehrreaktionen. Das Verhalten der T-Zellen in solchen Szenarien ist nicht untersucht, allein aus diesem Grund ist es unangebracht zu behaupten, Impfstoffe – insbesondere die bivalenten mRNA-Impfstoffe von Pfizer-BioNTech und Moderna – seien „relativ nutzlos“.

In der Arbeit aus China, die auch Blut von 3x Geimpften mit einer Durchbruchsinfektion mit BA.5 untersuchte, wurde der Impfstoff von Sinovac (CoronaVac) verwendet. Dieser Impfstoff hat seit der Virusvariante Alpha keine guten neutralisierenden Titer gegen andere Varianten erzeugt, und für Omikron hat CoronaVac allein überhaupt keine nachweisbare Neutralisierung erzeugt. Dies und die T-Zell Antwort lassen mit mehr Berechtigung behaupten, dass die mRNA-Impfstoffe sehr gut funktionieren werden.

Zum Abschluss noch die Darstellung der aktuellen Belegung von Normalpflegebetten durch Patienten mit Covid. Aufgrund der Immunisierung (Impfungen & Infektionen) und der Dominanz der Omikron-Variante hat die Corona-Kommission Anfang 2022 versucht, „Auslastungsgrenzen“ von Erwachsenen-Normalpflegestationen zu definieren. Das geschah aufgrund von Erfahrungswerten der Bundesländer, die dort zu Stufen- bzw. Krisenplänen führten. Demnach käme es bei einer Covid-spezifischen Auslastung von etwa 4% von Normalpflegebetten (rund 1.500 belegte Betten) bereits zu ersten Einschränkungen der Regelversorgung. Bei rund 8% (rund 3.000 belegte Betten) Auslastung mit Covid-Patientinnen und Patienten wäre wohl in den meisten Krankenhäusern mit massiven Einschränkungen von elektiven Eingriffen und Routineuntersuchungen zu rechnen. Eine Belegung von 4% entspräche 16,85 belegten Betten pro 100 000 Einwohner (untere rote gestrichelte Linie in der folgenden Abbildung). Vor zwei Wochen wurde diese Grenze in allen Bundesländern unterschritten, zum Zeitpunkt der letzten Kolumne vor einer Wochen lagen drei Bundesländer darüber und seit gestern schließlich haben alle Bundesländer diese Grenze überschritten. Für manche Bundesländer ist es nicht mehr weit zur oberen roten Linie, Salzburg hat sie schon überschritten (entsprechend der 8% Belegung).

Egal wie man es dreht oder wendet, und welches Kettenglied für die Belastung im Gesundheitssystem gerade als Schuldiger im Mittelpunkt steht, sei es die Zahl der durch Covid Patienten belegten Betten oder die Personalausfälle durch Krankenstände, es gibt eine gemeinsame Ursache: das hohe Infektionsgeschehen. Ob man für die Senkung des Infektionsgeschehens die Aufhebung der Isolationspflicht in den Verfassungsrang erheben muss? Oder reicht das Verbot des Tragens von Masken?

P.S.: So beurteilt die Coronakommission („Ampelkommission“) am 29. September in ihrem internen Bericht die Lage: „Diese Entwicklung entspricht der erwarteten Beschleunigung des Infektionsgeschehens durch saisonale Einflüsse (ein vergleichsweise kühler September) und höheren Kontakthäufigkeiten in Schulen und am Arbeitsplatz seit dem Ende der Urlaubszeit. Auch fehlende mitigierende Maßnahmen wie Schultests und Quarantänepflicht tragen zu der Dynamik bei, die sich gemäß Prognose in den nächsten Wochen fortsetzen wird.“ (Anm. Quarantänepflicht = Isolationspflicht!)«


Distance, hands, masks, be considerate! Ihr Armin Thurnher

Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:

Weitere Ausgaben:
Alle Ausgaben der Seuchenkolumne finden Sie in der Übersicht.

12 Wochen FALTER um 2,50 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!