Das elegante Genie. Abschied von Roger Federer

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 836

Armin Thurnher
am 19.09.2022

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Er ist der wahrscheinlich sympathischste Multimillionär, den die Welt kennt; es gibt niemanden, der etwas Böses über ihn zu sagen wüsste, und als er jetzt bekannt gab, er werde noch diesen September nach einem letzten Antreten beim Rod-Laver-Cup abtreten, war das nicht nur eine Sache für die Sportseiten, sondern für die Titelseiten der Weltmedien. Die New York Times ging voran und widmete dem Anlass ganze Bündel von Artikeln. Jedes Feuilleton, das auf sich hält, widmete ihm eine Hommage, die Frankfurter Allgemeine Zeitung bot Helmut Mayer auf, ich freue mich, erwähnen zu dürfen, dass dieser seine journalistische Laufbahn beim Falter begann.

Ich selbst habe als ehemaliger, in der Jugend nicht ganz, aber einigermaßen erfolgloser Tennisspieler (Finale der Vorarlberger Jugendmeisterschaft 1967, in zwei Sätzen verloren) immer wieder Federer meine schreiberische Reverenz erwiesen. Er war der Spieler mit der selbstverständlichsten Eleganz. Andere mochten sich mit Psychotricks und umfassender Disziplin in seine Sphären hinaufhanteln (Novak Djokovic) oder mit der überlegenen Fähigkeit, um jeden Punkt für sich zu kämpfen und dabei immer wieder Geist und Körper zu überwinden (Rafael Nadal) – Roger Federer war der Mann des Spiels. Wen immer Friedrich Schiller im Sinn gehabt hatte, als er sagte, der Mensch sei nur ganz Mensch, wenn er spiele, auf Federer trifft es zu.

Das natürliche Gelingen gibt es nicht, oder nur sehr selten. Das natürlich scheinende Gelingen, das gibt’s. Bei Federer hatte man beinahe Grund zu vermuten, es handle sich um ein natürliches Gelingen, um ein in den Zustand des Reflexes erhobenes Reagieren, das aber immer das Richtige traf. Bei ihm sah alles mühelos aus, unangestrengt, er brachte das Unwahrscheinlichste auf hirnstoppende Weise zustande, er zauberte Lösungen aus dem Hut, die in keinem Lehrbuch vorgesehen waren.

Wie soll ich es sagen? Es gibt im Spiel Momente, wo es sich von selbst spielt. Traf ich einmal, selten genug, einen Ball so vor dem Köper, so im Aufsteigen und so an der richtigen Stelle mit dem richtigen Körperschwung, setzte so etwas wie eine Zeitlupenwahrnehmung ein; der Ball wurde, obwohl objektiv schnell, subjektiv zur Superzeitlupe, und weil ich wusste, den kriegt der da drüben nimmermehr, schien sich alles scheinbar zu verlangsamen: ich konnte in aller Ruhe zusehen, wie der Ball die Ecke traf und der Gegner vergebens versuchte, auch nur in seine Nähe zu kommen.

Es ist Zen, oder sowas. Man darf nicht daran denken, den Ball richtig zu treffen. Man muss das Treffen wissen. Einfach treffen. Wenn ich jetzt Dominic Thiem zusehe, der seine Backhand in den guten Zeiten Longline so abfeuerte, reflexartig, als könne es nicht anders sein, dann erkenne ich den Unterschied, wie er jetzt nach dieser Reflexartigkeit sucht. Man sieht, er überlegt, jetzt feuere ich eine Longline Backhand ab, und weil er überlegt, geht sie zweimal von dreimal ins Aus und am Ende traut er sich nicht mehr, sie überhaupt zu spielen.

Bei Federers Bällen hatte man dieses Gefühl des langsam-schnellen Gelingen, des Unwillkürlichen, des Nicht-Denkens fast immer. So lehrte er uns staunen und ließ den Gedanken an bloße Reflexe gar nicht aufkommen.


Selbstverständlich steckte er genauso viel Arbeit in sein Spiel wie seine beiden Konkurrenten. Nur sah man es nicht. Die überehrgeizige Hochspannung von Djokovic, die körperliche Selbstüberforderung von Nadal – er war dagegen der griechische Halbgott, ein Athlet, würdig von einem Pindar gepriesen zu werden. Sein Pindar war bekanntlich (Federeristen wissen es, sorry, aber es muss erwähnt werden) David Foster Wallace, selbst professioneller Tennisspieler, der in seinem berühmten Essay „Roger Federer as Religious Experience“ unnachahmlich darlegte, was Federers Halbgöttlichkeit ausmachte.

Federer verlor oft, er verlor gegen seine beiden Konkurrenten öfter als er gegen sie gewann; er verlor auch ein paarmal gegen Dominic Thiem. Federer ist älter als beide, insofern versteht es sich, dass er als erster aufhört. Auch wenn man dachte, er werde ewig spielen (er ist erst 40, Jimmy Connors und Ken Rosewall spielten ein paar Jährchen länger).


Mein traurigstes Federer-Erlebnis hatte ich in einer Bar in einem slowenischen Bergdorf-Gasthaus; es war das Wimbledon-Finale 2019, das längste Finale der Turniergeschichte. Federer vergab zwei Matchbälle und verlor den letzten Satz mit 13:12. Der Wirt hielt aus slawischen Gründen zu Djokovic, wie er mir erklärte, aber er litt mit mir mit, der ich viele Biere trank, während ich zusah, wie Federer seine Matchbälle vergab und unnachahmlich graziös gegen Djokovic unterlag. Man nannte es einen epischen Fight, und Roger Federer war der Held dieser Epen, ob er gewann oder verlor.

Nicht einmal seinen märchenhaften Reichtum mag man gegen ihn ins Treffen führen. Er ist in einer Welt der dubiosen Figuren und der beklagenswerten Gestalten ein unerklärlich anderer; man zögert, ihm das Adjekt „nett“ anzuheften. Seine Nettigkeit scheint übergroß, wie seine Spielstärke das Tennis seiner Generationsgenossen überragte, ob er gewann oder verlor. Ihm schien die Verbissenheit seiner beiden großen Gegner zu fehlen. Er weinte zwar gern, wenn er verlor, aber auch das tat er mit Grazie.

Da kann man nur zum Abschied rufen, was Robert Schumann zur Begrüßung über Frederic Chopin äußerte: Hut ab, ihr Damen und Herren, ein Genie!


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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