Eine Königin für eine gute Wirtschaftspolitik!

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 833

Armin Thurnher
am 15.09.2022

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Darf ich noch einmal auf die Queen zurückkommen? In Alan Bennetts nunmehr auch von vier bis fünf meiner Leserinnen als wunderbar erkannten Geschichte über die Queen, die in Wahrheit eine Geschichte über die Verwandlungskraft der Literatur ist, um nicht zu sagen, eine Metamorphose, gibt es diesen kleinen Dialog mit dem Premierminister:

„Ich hätte gedacht“, sagte der Premierminister, „Ihre Majestät stünden über der Literatur.“

„Über der Literatur?“, sagte die Queen. „Wer stünde über der Literatur? Sie könnten genauso gut sagen, über der Menschlichkeit.“

Wobei man „humanity“ gewiss auch mit Menschheit übersetzen könnte, was aber dem trockenen Understatement des Charakters von Bennetts Königin zuwiderliefe.

Judith N. Shklar, 1928 – 1992 Grafik: @ Matthes & Seitz Verlag

Was hat die Queen mit der neuen Publikation von Markus Marterbauer und Martin Schürz zu tun? Nun, in ihrem Buch „Angst und Angstmacherei. Für eine Wirtschaftspolitik, die Hoffnung macht“  beziehen sich die beiden auf eine Königin anderer Art. Und zwar auf die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin und Essayistin Judith N. Shklar, wie Hannah Arendt eine wahre Königin der politischen Theorie. Mit dieser teilte die 20 Jahre jüngere Shklar als jüdische Emigrantin manches biografische Detail und stand der Älteren dennoch in ganz und gar nicht unkritischer Anerkennung gegenüber.

Es mag manche verwundern, dass Marterbauer, der Chefökonom der Arbeiterkammer und Falter-Kolumnist, und Schürz, Psychotherapeut und Vermögensforscher, sich auf eine ausgewiesene liberale Theoretikerin berufen. Denn Shklar ist nicht mehr und nicht weniger als eine Verteidigerin des Liberalismus; in ihren Augen stellt Liberalismus jene Lehre dar, „die Grausamkeit für das Schlimmste hält, was Menschen einander antun können“, wie das der Schriftsteller Hannes Bajohr ausdrückte, Übersetzer und Kommentator der deutschen Ausgabe ihrer Werke im Matthes und Seitz Verlag.

Shklar verteidigt einen „Liberalismus von unten“, wie man ihn auch nannte, gegen den Neoliberalismus, den illiberalen Liberalismus, wie man auch sagen könnte, wenn es denn so etwas gäbe. Freiheit („libertas“) steht ja im Zentrum der liberalen Argumentation, und doch ist gerade der Neoliberalismus, wie Marterbauer und Schütz nicht versäumen hervorzuheben, bereit, als erstes die Freiheit zu opfern, um zum Beispiel die Macht und das Vermögen der Reichen zu schützen. Woran man seine Illiberalität auf den ersten Blick erkennt.

Diesen Vermögen, dem Wirken des Kapitals, der Finanzwirtschaft vor allem müssen Grenzen gesetzt werden, sagen die Autoren, und recht haben sie. Der wahre Liberalismus verlangt nämlich Grenzen, Grenzen des Reichtums, der Bereicherung, des Kapitals, der Machtausübung, und dass diese Grenzen im gesellschaftlichen Diskurs festgelegt und gezogen werden müssen, ist eine Erkenntnis, die sich Bahn brechen sollte. Es ist höchste Zeit!

Dieses material- und facettenreiches Buch strotzt vor Beispielen für solche Grenzziehungen, und ich plädiere – da dies keine Rezension ist, sondern nur ein prolongierter Buchhinweis, wie sie die Kolumne gerne gibt – dafür, dass Sie es erwerben und es selbst lesen.

Mit der Feststellung, dass unsere Gesellschaft an ein paar Wendepunkten angekommen ist, sage ich Ihnen eine Plattheit, die sie nicht zum ersten Mal hören. Einer der heikelsten Wendepunkte scheint mir jener zu sein, der die liberalen Demokratien in Oligarchien („illiberale Demokratien“, noch so ein Widerspruch in sich) umschlagen lässt, in pöbelgestützte Tyrannenherrschaft oder gleich in den Faschismus. Man schaut dem Prozess zu, und man verzweifelt daran, dass es nicht gelingt, eine Alternative zu diesem gletscherartigen Abschmelzen politischer Vernunft zu finden; oder, was dasselbe wäre, ein Nachfolgekonzept für das, was in abgemilderter Form zum Wohlfahrtsstaat führte und zur europäischen Variante einer Demokratie, die imstande war, Grenzen zu setzen: dem Kapital, dem Reichtum, dem Staat. Das hieß einmal Sozialismus, dann Sozialdemokratie, und schafft es ganz offenbar nicht, sich zu erneuern.

Wir beobachten mit großer Sorge, könnten wir sagen, würden wir nicht den pluralis majestaticus lieber dem Schnabeltier überlassen („Das Schnabeltier, das Schnabeltier / vollzieht den Schritt vom Ich zum Wir“, Robert Gernhardt) und auch sonst entsetzt vor den hilflosen Phrasen stehen, in denen sich Politik, oder was sich dafür hält, selbst erstickt.

Mit Freude hingegen lese ich, dass Marterbauer und Schürz hier zu einem Ansatz finden, wie Politik wieder inhaltlich begründet werden kann. Sie muss nicht mit Frau Shklar begründet werden, obwohl es viel schlechtere Begründungen gäbe; aber begründet muss sie werden. Nur als Verteidigung einer Idee kann Politik wirken, ohne Idee bleibt die bestgemeinte Vertretung von Interessen nichts als Vertretertum. Wird sie, wie das Gesülze der handelsüblichen politischen Klasse, nur als Nachbeten der Waschzettel von Politikberatern und Politikberaterinnen vorgetragen, taugt sie nicht nur nichts, sie wird sofort instinktiv vom Publikum durchschaut und weggewischt.

Hier aber ist ein Konzept! Und Judith Shklar hat in der Tat eine gute Begründung: Weil es darum geht, die Verwundbarkeit der Schwachen abzuwenden, müssen denen Grenzen gezogen werden, die Schwache durch ihr Tun verwunden. Dass dieser einfache und überzeugende Ansatz Liberalismus, nicht Sozialismus heißt und damit den entsprechenden Diskriminierungen und Blockaden entgeht, ist eine wirklich gute, dialogöffnende Idee.

Als entscheidend bezeichnen Marterbauer und Schürz dabei die Einsicht, dass die vorherrschenden Ängste, Versagensangst und Statusangst, alle Schichten und Klassen erfassen, die oben wie die unten. Nur eine angstfreie Gesellschaft ist auch eine lebenswerte Gesellschaft.

Dass der nötige Diskurs über eine dafür dringend nötige Wirtschaftspolitik der Menschlichkeit möglich wird, dazu leisten Marterbauer und Schürz hoffentlich fruchtbare Vorarbeit. Lesen Sie selbst.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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