Verzockt? Völker, hört die Marktsignale!

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 822

Armin Thurnher
am 02.09.2022

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Ich stehe noch immer unter dem Eindruck der geballten ökonomischen Weisheit, die jetzt auf Social Media auf mich und den Falter herabprasselt. Auf dem letzten Falter-Cover stand zum Thema Wien-Energie „Verzockt“, und es war ein Fehler, das Fragezeichen weggelassen zu haben. Dieses Fragezeichen ist ja weder im Bericht von Eva Konzett noch in meinem Kommentar zu übersehen. So etwas passiert beim Cover-Machen, man kann es danach nicht mehr ändern. Man kann aber Gott danken, dass, wenn man selber einmal danebenhaut, offenbar wird, wer einem aller was zutraut. Auch nicht schlecht, vor allem lehrreich.

Ich stehe noch immer unter dem Eindruck der Runde im ORF, die am Dienstag zur Verteidigung von Wien-Energie ausgerückt war.


Screenshot: © ORF

Diese zweifellos äußerst geschäftskompetente Runde attestierte der Wien Energie, sie habe nicht spekuliert. Spekulation sei es, wenn man das Risiko erhöhe. Nicht-Spekulation (ergänzt der kleine Armin) ist es, mit Wetten auf das Eintreten von Ereignissen das Risiko zu begrenzen zu versuchen, was die Wien-Energie im Rahmen des Üblichen offenbar tat.

Aber was war das wirklich für eine Runde? Moderator Tarek Leitner, der seine Sache gut machte, stellt sie so vor: „Peter Weinelt. Er ist Aufsichtsratsvorsitzender der Wien Energie. Mit Barbara Schmidt, Generalsekretärin von Österreichs Energie. Mit Monika Köppl-Turyna, Direktorin des Wirtschaftsforschungsinstituts ECO Austria. Mit Johannes Benigni – er ist Energieanalyst und mit Michael Böheim vom WIFO. Er ist Energieexperte. Ihnen allen einen schönen, guten Abend und danke fürs Kommen.“

Dazu hätte ich gern gesagt: Ja, willkommen, Peter Weinelt ist zwar nicht der CEO der Wien Energie, aber die Geschäfte werden dort offenbar vom Aufsichtsrat geleitet. Frau Schmidt vertritt die Interessen der heimischen Stromwirtschaft und ist der ÖVP zuzurechnen, ebenso wie Frau Köppl-Turyna, deren Institut von der Industrie gegründet und finanziert wird (und auch vom Finanzministerium). Herr Benigni ist nicht nur „Analyst“, sondern Berater der internationalen Energieindustrie und Aufsichtsrat einer Lukoil-Tochter; er empfahl, von Sanktionen gegen Russland Abstand zu nehmen. Michael Böheim ist zweifellos kompetent und ebenso zweifellos kapitalfreundlich eingestellt. „Mineralölkonzerne sind keine Non-Profit-Organisationen. Sie wollen Gewinne machen, und nur weil sie Gewinne machen, sind sie noch am Markt existent“, sagte er an anderer Stelle, und würden die Menschen nicht um 2 Euro tanken, wäre der Preis bald nicht mehr so hoch, was mich ein wenig an Marie Antoinettes schönen Spruch erinnerte, wenn Sie kein Brot haben, sollen sie eben Kuchen essen.

Sie sehen also, dass ich dieser Debatte wie immer durchaus voreingenommen lauschte, mich aber ein wenig über die Einladungsstrategie des ORF wunderte. Zwei marktfromme Expertinnen, zwei industriefreundliche Experten und ein Betroffener analysierten die Lage. Da fehlte doch was oder wer? Das Hinsichtl-Rücksichtl-Gebot des ORF aka Rundfunkgesetz wird, wenn es um die Interessen des Kapitals geht, allezeit mit Designer-Stiefeletten getreten.


Ich bin bekanntlich kein Ökonom, aber wie Angehörige dieser Voodoo-Spezies doch auch Besserwisser. Meine Kritik an der Sache geht in eine ganz andere Richtung. Als der zuständige Stadtrat Peter Hanke („Finanzen“) die Parole ausgab, „die Märkte“ hätten „verrückt gespielt“, traf das als Diagnose gewiss zu. Nur sagt der Laie (ich), dass Märkte meistens verrückt spielen, und dass es eine von kapitalistischen Profis gern verbreitete Mär ist, sie seien rational und würden die Dinge zum Besten regeln, was sozialdemokratische Laien die ganze Zeit theoretisch bestritten, praktisch aber oft durch ihr Mitmachen bestätigten.

Ursula von der Leyen, die EU-Kommissionspräsidentin, gehört der Glaubensrichtung „rationale Märkte“  an, zu der neuerdings die Erzählung gehört, dass Putin an allem schuld sei. Putin ist gewiss der Auslöser der Energiekrise, aber man kann sich vorstellen, wie er im Kreml zynisch grinst, weil ihm erstens die Gazprom-Profite die Kriegskosten ersetzen (dieses Lachen wird ihm à la longue vielleicht vergehen) und zweitens, weil er mit seiner Gasverknappung das Beste im Westen hervorbrachte: nämlich „die Märkte“ verrückt zu machen.

Es sind natürlich nicht „die Märkte“, die verrückt geworden sind, es ist nicht die Gier (zu individualpsychologisch) von Energiekonzernen, sondern ihr Prinzip, das sie von ihrer solipsistischen Logik nicht abweichen und ihren Profit maximieren lässt, wo und wie es nur geht. Jetzt ist die Gelegenheit, danke, Wladimir! Das ist es, was geschieht, wenn Märkte verrückt spielen: es hält sie niemand davon ab, ihr Spiel zu spielen. Im Gegenteil, die EU ermutigt sie mit ihrem Liberalisierungsprinzip dazu!

In diese „Märkte“ einzugreifen gilt als Frevel, und über sie wird nur so geredet, wie es in unserer trauten Runde auch Frau Schmidt tat: „Wir waren ehrlich gesagt immer dagegen, in den Markt einzugreifen, weil wir gesagt haben, es braucht Marktsignale. Jetzt, durch die letzten Tage, aber schon, bevor das von der Wien Energie bekannt geworden ist, haben wir gesagt: Ja, also jetzt muss wirklich auf europäischer Ebene etwas passieren, temporär in das Marktsystem eingegriffen werden.“

Nach dieser Debatte war die Linke, von Robert Misik abwärts, von der Exkulpierung der Wien-Energie überzeugt (und ein kleiner böswilliger bis rasch enttäuschter Rest vom Versagen des Falter).


Das ist meine Kritik an Wien-Energie und an der Stadt: nicht dass dieser Energiekonzern an den Märkten teilnimmt (ok, das muss er) und sich selbst als Marktteilnehmer verhält (mit zugehörigen Risiken, aber offenbar nicht hochspekulativ, nur normalspekulativ, also „sicherheitsspekulativ“, so würde ich als Laie das nennen), aber dass er es unterlässt, namens der Stadt diese Märkte zu kritisieren und sich nicht an die Front derer stellt, die sagen, dass Daseinsversorgung mit Energie, Wasser und ein paar anderen Dingen nicht dem Markt überlassen werden darf, sondern öffentliche Angelegenheit ist, die auch nach öffentlichen Grundsätzen abgewickelt werden sollte: transparenz- und gemeinwohlorientiert, das ist das Problem. Peter Hanke sollte nicht reden wie Frau von der Leyen, er sollte ihr vehement widersprechen! Und nicht erst, wenn es zu spät ist.

Ja, das ist SOZIALISMUS, was denn sonst, aber das erwarte ich mir vom Roten Wien (mit großem „R“). Von dem erwarte ich mir, dass es sich an die Front stellt und Modelle vorschlägt, wie so etwas funktionieren kann. Von dem erwarte ich mir, dass es SOZIALISMUS neu und attraktiv definiert und mit einer unwiderlegbaren Praxis (Wohnbau, Soziales, öffentlicher Verkehr, Kulturpolitik etc.) untermauert. Dass im digitalen Zeitalter die Energieversorgung nur mehr durch Profitsucht und die angeblich existierende unsichtbare Hand „der Märkte“ geregelt werden kann, redet mir keiner ein. Und auf ihre Praxis muss die SPÖ aufpassen, denn sie ist von Übelwollenden umstellt. Ich gehöre nicht dazu, und der Falter auch nicht.

Die Ausrede mit Putin kann mir übrigens gestohlen bleiben. Vielmehr müssten sich Europa und die USA, vor allem aber die EU unter sich einigen, wie man solidarisch mit der Herausforderung umgeht, die beschlossenen Sanktionen durchzuhalten und den Preis dafür fair zu verteilen, das heißt nicht die unteren Klassen zahlen zu lassen.


So, und nachdem all das gesagt ist, was nur eine Andeutung all dessen ist, was gesagt werden müsste – die Kolumne ist nicht aus Gummi –, darf ich noch an jene appellieren, die glauben, dass mir solche Gedanken von der ÖVP ( Sebastian Kurz? Wolfgang Sobotka?) eingeblasen würden, die sich ja mit ihren medialen Auftritten zur Causa (Juraczka!) in 50 Minuten ein bisserl sehr viel mehr blamiert hat als sich der Falter in 50 Jahren blamieren könnte, und dass, wenn der Falter das rote Wien kritisiert, weil er das Rote Wien will, er irgendwelche Partei-Agenda betriebe: Kommet zur Vernunft! Die Emotionen hinter euren Spekulationen verstehe ich, die Motive will ich gar nicht ausleuchten.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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