Mein Winnetou. Teil 2 der kleinen Karl-May-Trilogie

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 816

Armin Thurnher
am 25.08.2022

Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:

Winnetou als Sondermarke der deutschen Post, 1987 Foto: Wikipedia

Kaum ein Autor hat im Gefühlshaushalt der deutschsprachigen Nationen des 20. Jahrhunderts solche Wirkung hinterlassen wie Karl May. Schon vor der Digitalisierung begann allerdings seine Anziehungskraft nachzulassen. Im Jahr 1995 aber nahm Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein einen Satz des damaligen deutschen Bundespräsidenten noch zum Anlass, ein 30.000-Zeichen-Stück über Karl May zu schreiben, einer der besten Texte über ihn, die ich kenne. (30.000 Zeichen entsprechen 6-7 Seuchenkolumnen).

Roman Herzog hatte bei den Berliner Filmfestspielen auf die Frage, was er am liebsten spielen würde, geantwortet: „Winnetou“. Augstein, Galionsfigur der liberalen Publizistik, ließ sich die Pointe nicht entgehen, darauf hinzuweisen, dass es wohl keinen deutschen Schriftsteller gebe, den binnen 50 Jahren zwei deutsche Staatsoberhäupter zu ihrem Lieblingsschriftsteller erklärten: Herzog und Adolf Hitler.

Augstein beleuchtet – ohne ein Hehl daraus zu machen, dass er dieses Treiben für verrückt hielt – die Cancel Culture der 1930er Jahre. Klaus Mann, woker Sohn Thomas Manns, schrieb über Karl Mays Wirkung: „Das Dritte Reich ist Karl Mays endgültiger Triumph, die schreckliche Verwirklichung seiner Träume, die sich – nach allen ethischen und ästhetischen Kriterien – in nichts von dem unterscheiden, was der mit Old Shatterhand aufgewachsene österreichische Anstreicher jetzt versucht, um die Welt neu zuordnen.“

Der jüdische Schriftsteller Friedrich Sally Großhut „nahm sich Rothaut Winnetou an: ,Ja, der Vorläuferprophet kann sich heute würdig bestätigt finden . . .‘ SA, SS und Gestapo seien Spielarten der Apachen und Sioux Mayscher Prägung … Zwei Dutzend Schriftsteller und die meisten namhaften Exilzeitschriften beteiligten sich an dieser Leichenfledderei …“ Hermann Broch, Egon Erwin Kisch und wenige andere weigerten sich, bei der neuen Karl-May-Hetze mitzutun, aber selbst Ernst Bloch, der May gerade noch besungen hatte (dazu morgen mehr), dekretierte nun: „Old Shatterhand trägt einen sehr deutschen Bart, und seine Faust schmettert imperialistisch herab.“

 

Hitler ließ noch 1943, in Zeiten des Papiermangels, große Auflagen von Karl-May-Büchern drucken. In Ermangelung militärischer Handbücher drückte man den meist jungen Volkssturm-Rekruten einen Karl-May-Band in die Hand. Der strategisch stets hervorragend agierende Winnetou sollte gleichsam als Militärberater dienen. Augstein spielt weder die Bedeutung Mays für Hitler herunter, noch unterschlägt er seriöse Interpretationen jener spezifischen Art von Heldentum, die jeder Machogesellschaft voranleuchten könnte.

Augstein:

„Niemand wird ernsthaft behaupten können, Hitler hätte seinen Krieg ohne Karl May gar nicht oder zumindest anders geführt. Und doch, in einem tieferen Bereich wurzeln möglicherweise Gemeinsamkeiten. Legt man die Deutung des Psychoanalytikers Erich Fromm zugrunde, dann figuriert Hitler ,im Zentrum einer von May geförderten Wirklichkeitsverleugnung zugunsten von Atavismus, Irrationalismus und romantischer Alltagsüberhöhung‘. Da mag etwas dran sein. Aber Fromm selbst sagt auch, es gebe hierfür nicht genügend überzeugende Belege.

Sicher ist: Hitler und Karl May waren beide außergewöhnlich narzisstisch introvertierte Menschen. Ihre Phantasiewelt war für sie realer als die Realität selbst. Schuld an Karl Mays Innenwelt könnte ja demzufolge in Umkehrung der Beweislast auch Adolf Hitler gewesen sein.

Um Hitler auf den Boden der Realitäten zurückzubringen, hat es der Anstrengungen der ganzen Welt bedurft. Karl May hingegen begegnete seiner Realität, indem er sie aufsuchte. Er reiste.“

Karl May hatte den Wilden Westen, die Schluchten der Skipetaren, das raue Kurdistan und die Wüste nie gesehen, als er sie schilderte. Er bereiste Teile seiner Schauplätze erst als alter kranker Mann. Er war zeitlebens ein Hochstapler, der für diverse Schwindeleien insgesamt zehn Jahre lang im Zuchthaus saß. Als Lehrer wegen Diebstahls gefeuert, war er als Landstreicher und Musikant unterwegs. Kurz nach der Geburt erblindet, erhielt er erst mit vier Jahren seine Sehkraft zurück. Ein „erstes entscheidendes Rettungserlebnis, (er) erlitt aber wohl damals erhebliche narzißtische Verletzungen, die er mit einer überreichen Phantasie zu kompensieren suchte“, kommentiert Augstein.

Im Gefängnis beginnt er zu schreiben und bringt Texte bei Kolportagezeitungen und katholischen Verlagen unter, später arbeitet er als Redakteur beim Blättchen „Bunte Stunden“. Er beliefert mehrere Blätter und Verlage zugleich in Fortsetzungen und schreibt wie verrückt, ohne die diversen Handlungsfäden zu verlieren. Seine Bücher sind oft aus verschiedenen Erzählungen zusammengestückelt. Er produziert manisch unglaubliche Mengen; allein im Jahr 1889 waren es 3770 Manuskriptseiten.

Erst Anfang der 1890er Jahre hat er auch kommerziellen Erfolg; 1894 erscheint endlich Winnetou I. Ab da ist May berühmt, bald der meistgelesene Jugendschriftsteller Europas, ja der Welt, und auch ein wohlhabender Mann. Vom Aufschneiden und Hochstapeln nimmt er nicht Abstand; in seiner Villa Shatterhand meldet er sich als „Dr. phil“ an. Er beherrsche 1200 Dialekte, sagt er bei öffentlichen Vorträgen, und kommandiere als Nachfolger Winnetous 35.000 Apachen.

War er zuerst in seinen Abenteuergeschichten durchaus brutal und blutrünstig (Winnetou jagte Skalpe), wurde er zunehmend friedfertiger und christlicher, ja „er forciert die religiösen Tendenzen seiner Geschichten in fast unerträglicher Weise“ (Augstein), bis er seinem Spätwerk offen katholisch-mystisch wird.

May war auch ein Prozesshansel, zahlreiche Verfahren, die meisten von ihm selbst angestrengt, begleiten seine letzten Jahre. Seine Werke werden in viele Sprachen übersetzt. Wenige Tage nach einem von 2-3000 Menschen besuchten Vortrag„Empor ins Reich der Edelmenschen“ in den Wiener Sophiensälen stirbt May 1912. Am Schluss seines Textes zitiert Augstein seinen Freund Martin Walser. Der Schriftsteller hat eine tragfähige Erklärung, warum er Karl May liebte: »Warum habe ich Karl May gelesen, jahrelang? Weil ich mir rettbar vorkommen wollte, ob im Balkan oder in den Händen von Indianern.«


Morgen: Winnetou III zwischen Freud und Marx, und was echte Indianer von ihm halten.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:

Weitere Ausgaben:
Alle Ausgaben der Seuchenkolumne finden Sie in der Übersicht.

12 Wochen FALTER um 2,50 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!