Kein Jubel ohne Beschwerde

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 803

Armin Thurnher
am 11.08.2022

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Eine Woche Besuch bei Mutter liegt hinter mir. Sie ist 103 Jahre alt geworden, in unglaublich guter Verfassung, lebenslustig, fit, nur das Kurzzeitgedächtnis ist dahin. „Ich erinnere mich nicht mehr an alles“, sagt sie gern. An fast alles, was soeben geschah. Das macht das Leben nicht unkomplizierter. Die Geschichten und Gesichter von früher sind alle da.

Ich half vor allem küchenmäßig aus, meine Schwester hatte einen wohlverdienten Urlaub in Finnland gebucht, wozu wir sie alle ermutigten. Sie kommt mit dem Schwager sonst jeden Tag. Täglich wird gekocht und gemeinsam gegessen. Neben allen anderen Leistungen, die sie vollbringt. Ich ziehe den Hut.

Mutter geht in den Garten und holt Salate, zupft Unkraut, gießt Pflanzen. Das ist alles ebenso unglaublich wie ihr Witz und ihre Schlagfertigkeit, wäre da nicht das mit dem Gedächtnis. Sie lässt sich nichts anmerken, aber sie merkt es. Der Härtetest kommt jetzt, da ein neuer Fernseher gekauft wurde. Der alte hatte die Gewohnheit entwickelt, an spannenden Stellen auszusetzen und stummen Schwarzfilm anzubieten. Ein Angebot, das nicht einmal Jean-Marie Straub reizen hätte können, die Dramaturgie war zu unberechenbar.

Schwager Karlheinz und ich haben das neue Gerät montiert, die üblichen Zicken bei der Inbetriebnahme überwunden, und nun steht oder sitzt Mutter vor der neuen Fernbedienung.


Ihr Startups da draußen, habt ihr nie daran gedacht, eine One-Fits-All-TV-Fernbedienung für alte Menschen zu machen, die einfach zu bedienen ist, mit analogen, großen Tasten mit lesbaren Ziffern operiert und nicht die digitale Intuition der Wisch- und Weg-Generation erfordert?

Das Gleiche könnte man für Handys fordern; ich denke, das wäre ein nicht zu unterschätzender Markt. Aber vielleicht gibt es all das schon und ich weiß es nur nicht. Die digitale Sphäre wird ja mehr und mehr zur Klagemauer, schon als C-Promi kann man mit auf Twitter oder in Blogs geäußerten Klagen allerhand bewegen.


Als zum Beispiel ich mich einmal am Knie mit einer Akku-Gartenschere von Stihl verletzte und das in der S-Kolumne bekanntgab, erhielt ich von dieser Firma ein kleines Trostpaket. Das Charmanteste darin war eine kleine Kettensäge als Schlüsselanhänger, die auf Knopfdruck wie ein Original-Fichtenmoped aufzuheulen versprach, aber leider bei meinem Knopfdruck stumm blieb. Da auch eine Schirmkappe von Stihl dabei war, die ich gerne trage, nahm ich das hin und beruhigte mich moralisch damit, dass das mit dem Gegengeschäft nach dem ersten Lehrsatz des Sobotkismus insofern fair ablief, als eine Hand die andere wäscht. Ich werbe für Stihl und bezahle somit weit mehr als den Wert des Geschenks.


Mutter bekam übrigens zum Geburtstag eine Schirmkappe geschenkt. Schwager und ich waren auf dem Fußballspiel, als wir anschließend bei Wurst und Bier (in Vorarlberg die 3. Halbzeit) einen Kappenträger erspähten, auf dessen schwarzer Kappe die weißen Ziffern „1919“ prangten. Da war es uns klar: Mutter ist so alt wie Schwarz Weiß Bregenz. Eine Koinzidenz, die mir nicht einmal aufgefallen war, als ich einen Artikel zur Jubiläumsbroschüre des Vereins meines Herzens beisteuern durfte (derzeit spielen sie gut und sind Favorit in der Vorarlberger Eliteliga; von fern winken 2. Division und Profifußball. Zeit wärs für ein Ende der Dorfclubdominanz). Kappe sehen und für Mutter kaufen war eins.

Sonst kann ich – digitale Klagemauer – vom Dienstleistungsgewerbe nur Übles berichten. Für ein besonderes Lowlight sorgte die Post. Stets hatten wir ihren Paketservice als zuverlässiger und den Angeboten der privaten Konkurrenz überlegen empfohlen. Aber die Post hat sich privatisiert. Meine Frau Irena hatte am Freitag einen Kuchen gebacken, war 20 km gefahren, um ein echtes Postamt zu erreichen und hatte satte 30 Euro extra bezahlt, damit das Paket auch wirklich am nächsten Tag vor 13 Uhr ankäme. Ich blieb zu Hause, um sicherzugehen, dass Mutter das Läuten nicht überhören würde, aber es kam nichts.

Irena verfolgte den Lauf des Pakets auf der Post-Website, wo zu lesen stand, das Paket sei um 10:46 im Verteilerzentrum eingetroffen, um 10:47 sei ein Zustellungsversuch unternommen worden, es sei aber niemand anzutreffen gewesen. Eine glatte Lüge. Sonst hätte man ja eine Verständigung hinterlegen müssen.

Irena schickte mir die Sendungsnummer, ich begab mich auf die Hauptpost Bregenz, wo das Paket tatsächlich lagerte. Eine Entschuldigung hielt dort niemand für angebracht, als ich den Sachverhalt schilderte. Ein Beamter sagte nur, als ginge ich ihm ungebührlich auf die Nerven: „Ja, wir kennen das. Wir haben Probleme mit der Zustellung.“ Das nächste Mal haben sie Probleme, uns als Kunden zu gewinnen.


So ist das mit den Dienstleistungen. Eine Verwandte hatte Blumen bezahlt und ihre Zusendung am Festtag bestellt. Nada. Der Strauß kam nie an. Während einer kleinen Zoom-Konferenz meldete sich plötzlich das WLAN-Modem ab (A1); ohne weitere Erklärungen kehrte es eineinhalb Stunden später wieder ins Datenleben zurück.


Ich gehe jetzt mit meiner Mutter Fernbedienung üben. Sie hat für solche Fälle ein Zitat bereit. „La vie est dure, hätte jetzt euer Vater gesagt.“ In der Tat. Aber warum ausgerechnet an mir? Es war übrigens trotzdem ein schönes Geburtstagsfest, Mutter ging wie immer als letzte ins Bett.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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