Systemwechsel, ja bitte. Bloß wie?

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 798

Armin Thurnher
am 05.08.2022

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Foto: Wikipedia

Manchmal kann man sich selber als Publizist ordentlich auf den Wecker gehen. Mir geht es oft so, wenn ich sicher bin, einen Nerv getroffen zu haben, aber mit der Fortsetzung hadere. Der Nerv lautet in diesem Fall „Überwachungskapitalismus“ und nicht ich habe ihn getroffen, sondern die fabelhafte Shoshana Zuboff, mit der ich die Ehre hatte, einmal live ein Gespräch führen zu dürfen, beim AK-Stadtgespräch von AK Wien und Falter.

Das Wort „Überwachungskapitalismus“ ist ein Schlüsselbegriff bei vielen Themen, sei es bei der Energiepreiserhöhung, der Kriegspropaganda oder dem neuerdings wieder hochkochenden „Hass im Netz“. Und immer ist die Energie fehlgeleitet, und nie, deswegen gehe ich mir auf den Wecker, finde ich den Zugang, sie zurechtzuleiten. Weiß schon, man kritisiert bloß, und muss sich dabei um die Wirkung nicht bekümmern; „mangelnde Wirkung“ ist ja ein gern gebrauchter Schmäh, einem die Kritik auch noch zu verleiden.

Aber es liegt ein seltsames Missverhältnis zwischen allgemein als problembärenhaft erkannter Realität und dem auf sie gerichteten politischen Handeln, das tut, als habe es nicht mit Problembären, sondern mit Meerschweinchenproblemen zu tun.


Ich denke zum Beispiel an das Wort „Systemwechsel“. Es ist vollkommen klar, dass unser Wirtschaftssystem unangemessen ist; aber ebenso klar ist es, dass wir den Wechsel zu etwas anderem nicht schaffen, weil es nicht von der Macht lässt, die es hat, das System. Nicht durch Appelle, nicht durch Händeringen, nicht durch messerscharfe Kritiken kommen wir von ihm los. Revolutionen sind nicht in Sicht, und das Bestehende hat nicht die besseren Argumente, sondern das Geld und damit auch im Zweifelsfall die Gewehrläufe, aus denen die Macht kommt (aber die Machtfrage wird so nicht gestellt). Zwar sind Revolutionen sehr wohl in Sicht, aber es sind Wenden ins Autoritäre, in den Kapitalismus der Happy Few ohne demokratische Legitimation der Unhappy Many. Die werden durch Unsoziale Medienmätzchen aller Arten stillgestellt.


Kurt Bayer zum Beispiel. Dieser famose Ökonom beweist in seinem Blog haarklein und viel besser als ich es je könnte, warum das System des Finanzkapitalismus uns in eine Krise nach der anderen führt, ohne dass wir klüger werden, vielmehr durch Schaden eher dümmer, wie man in der Kraus-Nachfolge gerne sagt. Auch er ruft nach einem „Systemwechsel“. Durch Rufen aber kommen wir nicht dorthin.

Wie kämen wir dort hin?

Ich habe keine Ahnung. Es läuft einerseits wohl wieder einmal auf Erziehung hinaus; auf eine wirtschaftliche Ausbildung, die Volkswirtschaft und Betriebswirtschaft in der Balance halten kann (wir wissen um die erstickende Dominanz neoliberaler Lehre an den Wirtschaftsuniversitäten). Einerseits ist klar, dass der Neoliberalismus programmatisch mit dem Sozialstaat Schluss machen wollte. Die Sozialdemokratie und in Deutschland auch die Christdemokraten haben das teilweise verhindert. Weiters ist klar, dass die Sozialdemokraten sich in der verstaatlichten Wirtschaft auf immer und ewig beschädigt haben; man müsste genauer sagen in der von ihnen dominierten Wirtschaft, denn dazu gehörte auch eine Genossenschaft wie der Konsum.


Es ist aber ebenfalls völlig klar, und die gegenwärtigen Krisen zeigen es uns allesamt, dass die Wirtschaft einer Neuorientierung bedarf, dass der öffentliche Sektor, in den letzten Jahrzehnten systematisch demontiert, stärker werden muss, und dass Verstaatlichungen oder Veröffentlichungen von Eigentum nicht mehr so vonstatten gehen dürfen wie in der Vergangenheit.

Die Enteignung der Massen (sprich Entstaatlichung) muss gestoppt und umgekehrt werden. Bloß wie, ohne in Debakel nach dem Muster der Verstaatlichten zu verfallen (das „Debakel“ verdient außerdem nähere Betrachtung und braucht eine öffentliche Neubewertung; in Summe war es nämlich keines; in seinen Enderscheinungsformen aber sehr wohl).

Es gibt zum Glück Modelle funktionierender Genossenschaften; mein Lieblingsbeispiel ist Migros in der Schweiz. Der stets die Rankings deutschsprachiger Wirtschaftsforscher anführende Ernst Fehr schrieb als junger Ökonom im Falter eine Serie über die erfolgreiche baskische Genossenschaft Mondragón ; sie ist mittlerweile das sechstgrößte Unternehmen Spaniens mit 81.000 Mitarbeitern, einem Umsaz von 11,3 Milliarden Euro, einem Verhältnis von 1:6 vom Mindestlohn zum Maximallohn im Unternehmen und noch immer weitgehend in demokratischer Verwaltung.

Solche Modelle müssten studiert und adaptiert werden und Vorbilder für ein neues System kapitalismusfähigen, aber demokratisierten Wirtschaftens vorstellen. Der Pfründengier der Parteien müsste ein Riegel vorgeschoben werden; durch Transparenz und öffentliche Kontrolle sollte das möglich sein. Die Freiheit der Einzelnen muss Maßstab bleiben.


Ich verstehe nicht, warum weder Schwarze, von der katholischen Soziallehre oder der sozialen Marktwirtschaft kommend, noch Rote, mit dem Roten Wien und sozusagen privater Vermögenslosigkeit daherkommend solche Versuche nicht unternehmen. Ohne sie wird der Sozialstaat nicht zu halten sein, und den Unsozialen Medien wird man anders nicht beikommen. Man sage nicht, die Sozis seien möglicherweise unbefleckt, aber auch unbeleckt. Ihre Kapitalismusfähigkeit beweisen sie in der Politpension eindrucksvoller als die meisten Schwarzen, die es oft nur zu Pfründenpositionen und Aufsichtsratspöstchen bringen.


Ich höre schon wieder auf, aber mit dem Thema will ich nicht Schluss machen. Ich danke allen Leserinnen und Lesern für interessante Einsendungen und Zuspruch zum Thema. Ich bleibe dran. Morgen, zum Achthunderter der Seuchenkolumne, kommt angemessenerweise Epidemiologe Robert Zangerle zu Wort, auf dessen Einschätzung der Coronalage Sie und ich schon warten.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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