Der Mann, der Joe Biden rettet. Aber nur vielleicht.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 796

Armin Thurnher
am 03.08.2022

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Darf ich einmal kurz weltpolitisch werden?

Während sämtliche Medien von der Tötung des Al-Kaida-Chefs Aiman al-Zawahiri widerhallten, der gewiss ein terroristischer Bösewicht finstersten Ausmaßes war, hörte ich kein einziges Räuspern, die Rechtsstaatlichkeit des Vorgehens betreffend. Aber gut, Barack Obama begann den Tag ja auch mit freihändig erlassenen Todesurteilen, die per Drohne im fernen Waziristan vollstreckt wurden, Kollateralschäden inklusive.

Wir beklagen die Retheologisierung der Welt und stutzen nicht einmal, wenn die Gralshüter demokratischer Rechtsstaatlichkeit nach dem alttestamentarischen Aug-um-Auge Prinzip handeln? Nur so zur Einleitung gefragt.


Kürzlich war hier die Rede von Adam Tooze. Da ich Abonnent seines „Chartbooks“ bin, las ich gestern mit Interesse seine Ausführungen über die IRA. Das ist nicht die Irish Republican Army, das ist in den USA der Inflation Reduction Act.

Die Ausführungen von Tooze, oft skizzenhaft, manchmal nur eine Sammlung von Links, sind im aktuellen Blog von seltener Ausführlichkeit. Das hat einen Grund. Tooze schätzt die Bedeutung des Ereignisses, das vielleicht diese Woche stattfinden wird, als von weltpolitischer Bedeutung ein. Denn überraschenderweise zeichnet sich in den USA, dem Grabstaat grüner Klimapolitik, statt einer Renaissance der Umweltverwüstung eine zarte Wende ab.

Die Biden-Demokraten haben bekanntlich vor den Midterm-Elections eine traurige Bilanz aufzuweisen; Joe Biden hat keines seiner großen Vorhaben durchgebracht. Jetzt hat er zwar Al Zawahiri umgebracht und kann hoffen, dass das seinen traurigen Beliebtheitswerten aufhilft. Aber sein großes „Build Back Better“-Infrastrukturpaket, mit dem er erfüllen wollte, was Trump nicht einlöste, brachte er nicht durch den Kongress. Covid, der Krieg und Joe Manchin machten ihm dicke Striche durch die Rechnung.

Joe Manchin. Foto Wikipedia

Doch nun scheint dieser Oberblockierer aller Klassen, Joe Manchin, Senator aus dem Kohlestaat West Virginia und praktischerweise selbst Kohlebaron, dessen Stimme (gemeinsam mit jener von Frau Kirsten Sinema aus Arizona) den Demokraten fehlte, um die angesagte 3,5 Billionen Dollar-Infrastrukturreform durchzubringen, in letzter Sekunde eine auf ein Zehntel dieser Summe abgespeckte Reform im Rahmen des IRA zu ermöglichen.

Zwar reklamierte Manchin allerhand kontraproduktive Maßnahmen wie Steuererleichterungen für die extraktiven Industrien hinein, doch machen diese höchstens ein Zehntel der grünen Effekte aus. Was beschlossen wird, wenn es denn beschlossen wird, nimmt sich eindrucksvoll aus:

„260 Milliarden Dollar an Steuergutschriften für saubere Energie; 80 Milliarden Dollar an neuen Rabatten für Elektrofahrzeuge, grüne Energie zu Hause und mehr; 1,5 Milliarden Dollar an Belohnungen für die Reduzierung von Methanemissionen; 27 Milliarden Dollar für eine „grüne Bank“ auf Bundesebene als Ergänzung zu den 23 Banken, die es in den USA bereits gibt; Unterstützung für Kohlebergleute mit schwarzer Lunge.

Insgesamt schätzen die Demokraten, dass der Gesetzentwurf 739 Milliarden Dollar an Einnahmen einbringen und 433 Milliarden Dollar an Ausgaben investieren wird. Das Ergebnis wird eine Verringerung des Defizits in der Größenordnung von 300 Milliarden Dollar sein. Die umfangreichen Zusagen zu den Klimaausgaben werden von Bestimmungen flankiert, die Einsparungen in Höhe von 288 Milliarden Dollar bei den Medicare-Ausgaben auf Kosten der Pharmaindustrie, eine dreijährige Subvention in Höhe von 64 Milliarden Dollar zur Unterstützung von Obamacare und eine Obergrenze von 2.000 Dollar für die Selbstbeteiligung von Medicare-Senioren durchsetzen.“

Tooze erzählt die Geschichte der gescheiterten und vielleicht doch zustandekommenden Kompromisse und des dahinterstehenden Lobbyings. „Wenn das Hauptziel der frühen Biden-Administration darin bestand, die amerikanische Politik mit einer kühnen Gesetzgebungsagenda unter einer offenkundig progressiven Marke neu zu gestalten, dann ist dieses Projekt gescheitert, und der Kompromiss in letzter Minute ändert daran nichts.“ Zwar sehen Umweltorganisationen auch positive Effekte.

Am Ende bleibt ein skeptisches Resumee: „Die CHIPS- und IRA-Gesetze mögen wirksam sein, aber sie sind keine Gesetze, die die amerikanische Gesellschaft verändern werden (CHIPS-Gesteze sind jene, die eine nationale Halbleiter-Industrie aufbauen helfen sollen; 98 Prozent aller Halbleiter werden derzeit in Taiwan gefertigt, Anm.). Sie funktionieren im Rahmen der politischen Ökonomie. Und angesichts der schlechten Umfragewerte, unter denen die Demokraten immer noch leiden, könnten sie zu spät kommen und zu sehr von der Inflation überschattet werden, um das zu sichern, was die Demokraten und die amerikanische Demokratie am dringendsten brauchen – etwas, das nicht zu einem totalen Desaster bei den Midterm-Election führt. Der progressive Teil des Biden-Teams wurde aufgerieben. Ob die politischen Nachrufe auf die Biden-Administration als Ganzes zu früh geschrieben wurden, bleibt abzuwarten.“

Wenn einer Biden rettet, dann eher al-Zawahiri als Manchin. Die Tötung Osama Bin Ladens erwies sich für Barack Obama nicht als Nachteil.


Kürzlich gab Daniel Cohn-Bendit, Freund aus Post-68-er Zeiten, Dany le Rouge jener Studentenrevolte, der die Springer-Presse stets höhnisch entgegenhielt: „Geht doch nach drüben!“ ein Interview im Kurier, wo er den Gegnern von Waffenlieferungen an die Ukraine riet: „Dann sollen sie doch in den Osten gehen“, was der Kurier naturgemäß zum Titel des Interviews machte. Als wüsste der gute Dany nicht ganz genau die Antwort auf diese verlogene Aufforderung. Man kann gegen den Krieg und gegen Putin sein, wie man gegen Springerpresse und Vietnamkrieg sein konnte, ohne deswegen ein DDR- oder Moskauapologet zu sein. Heute ist die Springerpresse in Gestalt des Herrn Ronzheimer die moralische Instanz der Berichterstattung aus der Ukraine. An Waffenlieferungen führt leider kein Weg vorbei. Die Weltgeschichte ist schon ein Hund.


Distance, hands, masks, be considerate! Ihr Armin Thurnher

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