Zu den Quellen: Adam Tooze

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 793

Armin Thurnher
am 30.07.2022

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Ich liebe ihn nicht, meinen Kolumnengeist. Ein flüchtiges und trügerisches Wesen ist der. Kaum hatte er mir eingeblasen, jede Kolumne dieser Woche mit „Ich liebe…“ zu beginnen, hat er es mir wieder ausgeblasen, obwohl auch die gestrige Kolumne eine Liebeserklärung war. Einblasen – ausblasen. Oft sitze ich wie ein leeres Ei vor der Tastatur, und schneller als ich denken kann, leider, füllt sich die Kolumne, das ist dann der Geist, der mir Zufallsfunde eingibt, üble Einfälle auf mich loslässt, mich mit schlechtem Geschmack übergießt.

Manchmal muss ich mich von ihm emanzipieren und meinem Publikum etwas Vernünftiges vorsetzen. Ich liebe es ja meistens … nein, ich höre auf damit. Zum Vernünftigen gehört die Aufarbeitung lang gehegter und hier in lügenhafter Weise angekündigter Vorhaben, zum Beispiel des Projekts Schuld (Sie erinnern sich nicht, ich auch kaum, der Kolumnengeist sehr wohl, aber der will mich nur ärgern).


Mit einem anderen Projekt fange ich heute einfach an. Es heißt „Quellen“. Kürzlich saß ich im Kreis von, naja Lieben möchte ich sie nicht nennen, obwohl ich sie sehr mag, aber befreundete Intellektuelle sind nicht etwas, das man mögen möchte, obwohl Konversationen mit ihnen den Möglichkeitssinn aufs Schönste schärfen. Was hat mögen schon mit möglich zu tun! In solchem Kreis tauchte die Frage auf, was man denn so lese, lesen müsse, um die Welt zu verstehen. Wir nannten einander die üblichen Tageszeitungen (österreichische waren nicht darunter) und dann die Periodika. Wieder einmal fiel mir meine Anglophilie auf, die nur mit meinem dürftigen Repertoire an Sprachen zusammenhängt; aber einer der Freunde beruhigte mich, die italienischen Zeitungen seien schlechter geworden. So schlecht sie auch sind, sie und die französischen kann man heutzutage mit Hilfe von DeepL lesen, das den üblen, aber „gratis“ (also gegen Datenraub) zur Verfügung gestellten Google-Translator um Längen schlägt.

Ich fing bei den Nennungen mit den guten alten Blättern für deutsche und internationale Politik an, einer deutschen Monatsschrift aus der Habermas-Hälfte der deutschen Bundesrepublik, die aber regelmäßig aus jenen Magazinen übersetzt, die ich für maßgeblich erachte: New Left Review, London Review of Books, New York Review of Books undsoweiter.

In der aktuellen Ausgabe folgt die Probe aufs Exempel. Ein Aufsatz von Adam Tooze aus The New Statesman, das es nur aufgrund von Überfüllung noch nicht auf meine Aboliste geschafft hat. Darin argumentiert Tooze für eine strategische Autonomie Europas und stellt eine Reihe unbequemer Fragen: Wieviel sind wir bereit, nicht nur für eine Unabhängigkeit von Putins Gas zu bezahlen, sondern auch für den Weg aus unserem US-Vasallentum (Tooze nennt es nicht so)? Und wo ist unsere wertebasierte Politik, wenn es um die Zusammenarbeit unserer Industrie mit China geht, bei der Sklavenarbeit in Xinjang oder beim Import chinesischer Solarzellen? Und ist die einzige strategische Phantasie, die wir in Europa entwickeln, jene einer „primitiven Festung Europa“?

Die erste Form einer europäischen Armee, die ersten EU-Uniformen, die es gab, sagt Tooze, waren jene der Frontex-Beamten, „die unter anderem in Push-Backs gegen Migranten auf dem Mittelmeer verwickelt sind.“ Insgesamt sei die Nato momentan notwendig in der Kooperation mit den USA und im Angesicht von Putins Angriff die „wesentlich erste Verteidigungslinie. Aber wenn es um die Zukunft geht, ist sie bestenfalls eine Teillösung, sehr wahrscheinlich eine Ablenkung und schlimmstenfalls eine historische Sackgasse.“


Cover des New York Magazine vom 28.3.2022 Foto © New York Magazine

Wer ist dieser Adam Tooze? 1967 nach Selbstdefinition „in die englische Brahmanenklasse hineingeborener“ Engländer, aufgewachsen zum Teil in Deutschland, Historiker und Ökonom, unterrichtet an der Columbia University in New York City. Als junger Economics-Professor in Cambridge wurde er von der Kritik des alten, aber brillanten Marxisten Perry Andersons an Francis Fukuyamas „End of History“ gleichsam erweckt; er versuchte seinen Unterricht zu „befreien“, ging in der Folge an die Yale-University und später an die Columbia University.

Umso härter traf es ihn, als Anderson in der New Left Review eine respektvoll beißende Kritik an Toozes Besteller Crashed veröffentlichte. Anderson warf ihm vor, „mit den Hunden zu jagen und mit den Hasen zu laufen“, also ein zu wenig kritischer, wendehälsiger Liberaler zu sein. Das war hart, aber ungerecht. Tooze hat gewiss dandyhafte, auch eklektische Züge; bei einem Mann seiner Produktivität ist das fast nicht anders möglich. Aber er ist, das konzediert auch Anderson„ der herausragende Wirtschaftshistoriker seiner Generation“.

Sich selbst beschreibt Tooze als linksliberal; in einem großen Porträt des New York Magazine, das ihm sogar das Cover widmete, stand, er sei der einzige Mensch, dem man zutrauen würde, zugleich beim Weltwirtschaftsforum in Davos und bei einer Loft-versammlung des linken Verso-Verlags aufzutreten.

Ja, Tooze hat eine Followerschar, die sogenannten Tooze-Boys, die sich hinter seinen auch auf Twitter unermüdlichen Aktivitäten versammeln, und er sagt, sein Anliegen sei es, „die politisch-managerielle Klasse zu unterrichten“. Deswegen müsse er eben mit ihr direkt sprechen, war seine Antwort an Anderson. Wenn kaum jemand verstehe, was auf dem Aktienmarkt passiere, empfinde er es eben als seine Aufgabe, das zu erklären.

Seine persönliche Loyalität teilt er „zwischen England, Deutschland, der ,Insel Manhattan‘ und der EU“. Seine fundamentale Doppelbildung als Historiker und Ökonom und seine offenbar unerschöpfliche Energie haben ihn auch im Ukraine-Krieg zu einem globalen Erklärer gemacht, der im Lauf einer Krisenwoche schon einmal Dutzende Interviews gibt und Texte publiziert, von Stern bis Zeit, von Capital bis WOZ, von Spiegel bis Falter.

Dazu hat er einen eigenen Blog, Chartbook, wo er als erster analysierte, wie die Deutschen mit einem Gassperre durch Putin umgehen könnten. Schwierig, aber es ginge, sagte er schon im März, und erklärte auch, wie.

„Vor nicht allzu langer Zeit war Tooze ein obskurer Akademiker. Heute gehört er zu den einflussreichsten Finanzkommentatoren der Welt mit treuen Lesern in Washington, London, Paris und Brüssel sowie an der Wall Street“, schrieb das Magazin The Atlantic.

Derweil gehört auch ihr Seuchenkolumnist zu ihnen.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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