Dringende Empfehlung: Karl Kraus lesen!

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 792

Armin Thurnher
am 29.07.2022

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Gestern erhielt ich die Mitteilung des Verlags, dass das Werk endlich erschienen ist. Das Werk: das monumentale Karl Kraus-Handbuch, herausgegeben von der famosen Katharina Prager und dem formidablen Simon Ganahl. So gut wie alles, was in der Karl Kraus-Publizistik Rang und Namen hat, ist darin mit einem Text vertreten. Bereits eine flüchtige Durchsicht des Inhaltsverzeichnisses erweist das Werk als Meilenstein der Kraus-Forschung. Alle, die sich heute für Kraus interessieren, und dafür gibt es viele gute Gründe, werden an diesem Buch nicht vorbeikommen. Ich plane deshalb, das Buch in einer eigenen Kolumne vorzustellen. Da ich die Ehre hatte, einen Aufsatz über Karl Kraus und den heutigen Journalismus beizusteuern, drucke ich als Vorgeschmack einfach die beinahe ungekürzte Einleitung meines Textes ab.


»Seit Monaten sitze ich vor meinem Thema und bringe es nicht aufs Papier. Das Thema will nicht aufs Papier, weil vor dem Papier einer von den Epigonen steht, der größte von denen, die in dem alten Haus der Sprache wohnen. Ich soll darüber berichten, wie seine freundlichen Feindinnen und Feinde heutzutage mit ihm verfahren, die Journalistinnen und Journalisten, und ich habe Hemmungen, weil ich, wie alle Kraus Verehrenden, dabei mit Respekt vor ihm, ja mit Rücksicht auf ihn vorgehe. Und mich dabei gegen den Fehler aller Verehrung vorsehen muss, vor lauter Verehrung blind zu werden. Wer blind verteidigt, dem schlägt Opferdampf in die Augen, oder so.

Ich bin durch Kraus zum Schreiben gekommen; vermutlich habe ich auf diese Weise mehr Journalismuskritik zu mir genommen als Journalismus, ehe ich selbst zum Journalisten wurde. Die darin liegende Verlegenheit mag auch erklären, warum ich von Anfang an versucht habe, meinen Journalismus zugleich als Antijournalismus anzulegen. Der frühe Falter war darin explizit und strotzt auch vor Kraus-Zitaten; mehrere Autorinnen und Autoren waren sich darin einig und wussten, worum es ging: gegen den aus kommerzieller Verblendung und politischen Nullsätzen angerührten Phrasenbrei. Wir benützten Kraus emblematisch.

In Ermangelung autoritativer Lehrerinnen und Lehrer an der Uni (die vorhandenen Exemplare waren entweder meist kleinbürgerlich-unbeachtlich oder nationalsozialistisch diskreditiert, oder beides) hatte Kraus mit seinen autoritativen Sprachurteilen bei mir zuvor schon die Stelle eines Universitätslehrers eingenommen. Von meinem Freund Franz Schuh, Gesinnungsgenosse in Krausfragen und Autor zahlreicher leuchtender Texte über Kraus, lernte ich beizeiten, man dürfe nicht zum Kraus-Jünger werden, sondern habe dessen Schule taoistisch zu durchlaufen, eingedenk des bekannten Wortes von Walter Benjamin: „Nichts trostloser als seine Adepten, nichts gottverlassener als seine Gegner.“ Schuh lehrte mich, dass Kraus kein Autor ist, „bei dem man gefahrlos in die Schule gehen kann, er ist einer, bei dem man viel verlernen und verspielen kann – einschließlich der eigenen Persönlichkeit.“

Von seiner Lektüre blieb mir eine Infektion mit dem Virus Sprache, die nicht zur Immunität führte, sondern zu höherer Empfindlichkeit, ja zu einer eigenen Sprachmagie, bei der man sich schreibend der Kraft der Wörter überlässt. Das allgegenwärtige Gendern, das einen guten gesellschaftlichen Zweck verfolgt, merkt das Verfolgerhafte seines Tuns nicht, dass es nämlich, um Gutes zu tun, der Sprache Gewalt antut. Nicht, indem es neue Sprachformen schafft, schon gar nicht durch mehr Wachsamkeit, nein, durch die bloße Idee, man könne durch den Gebrauch der Sprache diese zu einem guten Zweck benützen.

Statt sich ihr auszuliefern, wie Kraus es fordert und vormacht! Wenn es eine zweite Lehre gibt, die aus seiner Lektüre zu ziehen wäre, dann diese: man benütze die Sprache nicht, man mache sich ihr nützlich. Diesen Unterschied werden, fürchte ich, nur jene verstehen, die ebenfalls mit Kraus infiziert sind. Ich habe es mit journalistischen Kolleginnen und Kollegen versucht und gemerkt, dass sie mir beipflichten, nicht aus Einsicht, sondern weil es ihnen zu mühsam ist, mit mir zu rechten.

Es scheint nicht leicht, im phrasenhaften Sprachgebrauch nicht eine praktische Gebrauchsanleitung zum Publizieren, sondern das Grundproblem des Journalismus zu erkennen. Ich habe versucht, wenigstens das Erkennen von Phrasen zu lehren. Mehr als zehn Jahre lang unterrichtete ich an der Fachhochschule Wien einen Kurs mit dem Titel „Sprache und Stil“, von dem ich nie genau wusste, was die Auftraggeber von ihm erwarteten. Vermutlich war er als eine Art Schreibwerkstatt gedacht, als so etwas wie „Journalistisches Schreiben und Stil“. Ich legte den Auftrag weiter aus und las neben vielem anderen auch Stücke aus dem posthum von Philipp Berger, Kraus’ Nachlassverwalter, zusammengestellten Band Die Sprache – mit wenig Erfolg. Das Ideal phrasenfreien Schreibens als ethische Pflicht zu erklären, gelang mir, fürchte ich, nicht einmal andeutungsweise.

Ähnlich scheint mir die Sache auch unter Kolleginnen und Kollegen zu liegen. Sie erkennen Kraus nicht mehr als Herausforderung und sprachethischen Imperativ, sie betrachten ihn als psychologisches Problem, begierig darauf, ob ihm nicht post festum wie Adolf Loos und Peter Altenberg ein wenig Pädophilie nachzuweisen wäre. Sigmund Freud hat auch diese Auseinandersetzung gewonnen. Dabei gehört Kraus anders als Karl Marx keineswegs zum Arsenal einer Generation, die es zu entmachten galt und gilt. Das belebt auch meine Hoffnung, er bleibe, als erratischer Lehrer, so wenig schulbildend, dass er niemandem auf die Nerven geht, aber so gefährlich, dass Menschen, selbst Journalistinnen und Journalisten, ihm immer wieder aufs neue verfallen können.«


Warten Sie nicht auf meine nächste Kolumne, kaufen Sie dieses Buch. Es ist nicht billig, aber Sie werden es nicht bereuen.

Katharina Prager, Simon Ganahl (Hg): Karl Kraus-Handbuch J. B. Metzler Verlag 545 S., € 102,79


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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