Die bürgerliche Publizistik kann bisweilen doch noch was.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 789

Armin Thurnher
am 26.07.2022

Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:

Ich liebe die Neue Zürcher Zeitung. Manchmal. Ihr Chefredaktor Eric Gujer ist ein strammer Rechter, der immer wieder gern auf der Titelseite klartextmäßig aufreibt. So am vergangenen Samstag, als er unter dem Titel „Die Party ist vorbei“ mit quasi vorgereckter Kinnlade es wieder einmal den üblichen der Schuld an der fatalen Krisensituation Verdächtigen hineinsagte. Dem Nachtwächterstaat vor allem, aber auch den fremdverantwortlichen Untertanen, die sich von jenem in die süße Narkose ihrer Bedürfniswelt einlullen ließen. Damit ist jetzt vorbei, konstatiert Gujer genüsslich, es herrscht bald Heulen und Zähneklappern, das Experiment von Dr. Mabuse Putin im weißen Kittel (ich schwöre, ich hatte es nicht gelesen, als ich gestern die TV-Soap „Schwarzmeerklinik“ mit Chefarzt Dr. Putin phantasierte) führt der Menschheit ihre Verweichlichung, Verkommenheit und Fremdbestimmtheit vor Augen.

Wörtlich klingt das dann so:

„Kein Politiker schenkt den Menschen reinen Wein ein und erklärt ihnen, dass sie auf einem guten Teil der Kosten sitzenbleiben werden. Flächendeckende Entlastung – das war gestern. Die Party ist vorbei. Wenn Gas, Öl und Strom teurer werden und die Inflation anzieht, ist selbst «whatever it takes» nicht genug. Die Regierungen müssen die an die Notenbanken delegierte Verantwortung wieder selbst tragen und den Mangel organisieren. Die Politik gewinnt ihre Souveränität zurück und entscheidet über den Ausnahmezustand: Wer bekommt wie viel Gas und Strom?

In der Ära des billigen Geldes ist das Bewusstsein dafür abhandengekommen, dass sich nicht alle Risiken auf die Gemeinschaft abwälzen lassen. Der Sozialstaat spannt zwar ein Sicherheitsnetz auf, aber dieses kann nur die Bedürftigsten aufnehmen. Die Mittelstandsgesellschaft verlangt hingegen nach Subventionen aus der Giesskanne. Das Problem sind nicht Geringverdiener und Rentner, deren Energierechnungen der Staat bezuschussen kann. Das Problem sind Normalverdiener, die zu zahlreich sind, als dass man ihnen eine Vollkasko-Police gegen alle Fährnisse des Lebens anbieten könnte.

Die westlichen Gesellschaften haben verlernt, mit Knappheiten umzugehen, obwohl sie die Grundlage der Wirtschaft sind. Das gilt für Geld genauso wie für Energie. Auch die Globalisierung hat, so segensreich sie ist, ihren Teil dazu beigetragen. Kleidung und Elektrogeräte aus China, billige Flüge zu allen Destinationen gehören ganz selbstverständlich zu diesem Lebensstil.

Vor dem Ausbruch der Pandemie behaupteten die Medien, sogenannte Flugscham werde zu einem Massenphänomen. Angeblich war den Passagieren der von ihnen verursachte CO2-Ausstoss peinlich. Dieselben Medien überschlagen sich jetzt mit Berichten über volle Flughäfen, stornierte Flüge und gereizte Reisende. Offenkundig plagt die Menschen keine Flugscham, sondern allenfalls eine Wut, wenn der Konsum ausbleibt.

Der Ukraine-Krieg konfrontiert die Industrieländer erstmals seit langem mit Energiemangel und entsprechend hohen Preisen. Die deutschen Grünen forderten 1998, der Liter Benzin solle 5 Mark, also knapp 2 Euro 50, kosten. Hohn und Spott ergossen sich damals über sie. Zwei Jahrzehnte später ist es beinahe so weit. Doch statt seine Partei für ihre prophetische Gabe zu loben, verspricht Wirtschaftsminister Habeck Entlastungen. Verdutzt reibt man sich die Augen. Seit Jahrzehnten verlangen die Grünen, die Nachfrage mittels Preissignalen so zu lenken, dass fossile Brennstoffe unattraktiv werden. Jetzt, wo es so weit ist, bekommen sie Angst vor der eigenen Courage.“

Zielsicher steuert Gujer auf seine Pointe zu: „Whatever it takes war der Slogan einer vergangenen Epoche. Never waste a good crisis, verschwende nie eine gute Krise, lautet heute die Devise. Die Zeit der Anästhesie ist vorbei.“ Dabei verschweigt er allerdings, dass der Satz „Never let a good crisis go to waste“ (so lautet er korrekt) zwar von Winston Churchill stammt, aber vom linken Ökonomen Philip Mirowski revitalisiert wurde. „Never Let a Serious Crisis Go to Waste“ heißt der Titel seines Buches (deutsch: Untote leben länger), in dem er damit abrechnet, wie der Neoliberalismus die Finanzkrise von 2008 nicht nur überlebte, sondern zu seinen Gunsten nutzte. Das gleiche Schauspiel erleben wir nun wieder. Die Abraham a Sancta Claras des Neoliberalismus schelten die Staaten und ihre schwachen Politiker, derweil die Wirtschaft abkassiert und jene weiter schwächt.


20-Millionen-Mark-Banknote aus der deutschen Hyperinflation in den frühen 1920er Jahren Foto @ Deutsches Bundesarchiv

Warum liebe ich die Neue Zürcher Zeitung? Weil in der gleichen Ausgabe prominent und über dem Gujer-Kommentar angekündigt der ebenfalls bürgerliche, aber durchaus interessante Wirtschaftspublizist Rainer Hauk (ehemals FAZ) unter dem Titel „Auch die Inflation hat ihre Profiteure“ in ganz anderem Tonfall mit der Inflation abrechnete:

„Und wer freut sich? Die Unternehmen. Statt rückläufiger Umsätze und Gewinne angesichts hoher Energiepreise meldet der weltgrösste Chemiekonzern BASF für das erste Halbjahr ein Umsatzplus von 16 Prozent und eine Gewinnsteigerung um 33 Prozent auf über 2 Milliarden Euro. Schon im letzten Jahr hatten sich die Gewinne verdoppelt. Nicht nur bei der BASF, sondern auch in der Automobilindustrie, die trotz brüchigen Lieferketten und fehlenden Halbleitern so viel verdient wie noch nie. Isabel Schnabel, Ökonomin im Direktorium der Europäischen Zentralbank (EZB), hat diese überraschende Resilienz der Unternehmensgewinne allen Widrigkeiten der ökonomischen und geopolitischen Erschütterungen zum Trotz bestätigt. So sind die allermeisten Firmen (vor allem die grossen Konzerne) in der Lage, die höheren Preise für Energie und andere Rohstoffe an ihre Kunden weiterzugeben. Den Gewinn je Stück («unit profit») konnten seit 2020 alle Branchen der Euro-Zone beträchtlich steigern. Die Erwartungen für die nächsten zwölf bis achtzehn Monate bleiben hoch. (…) Es ist die Industrie, die zugleich Treiber und Profiteur einer Teuerung ist, die vor zwei Jahren kaum einer vorhergesagt hat. Es sind jedenfalls im Euro-Raum (noch) nicht die Arbeitnehmer, denen man vorwerfen könnte, sie provozierten eine gefährliche Lohn-Preis-Spirale. Bei mehr als 8 Prozent Inflation führen Tarifforderungen der deutschen Gewerkschaften von mehr als 8 Prozent, die am Ende bei einem Abschluss von mutmasslich 6 Prozent landen, zu Reallohnverlusten.

Aus Sicht der Gewerkschaften muss es zynisch klingen, wenn die Regierungen von ihren Bürgern Mäßigung verlangen, während die Unternehmen sich ihrer Rekordgewinne erfreuen.“

So kann man bürgerlich-konservative Öffentlichkeit ganz gut aushalten. Im Wunsch nach Klartext finden wir uns alle. Über den kann man wenigstens streiten.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:

Weitere Ausgaben:
Alle Ausgaben der Seuchenkolumne finden Sie in der Übersicht.

12 Wochen FALTER um 2,50 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!