Geringer Corona-Schutz für die Ältesten. Das soll „verhältnismäßig“ sein, Herr Gesundheitsminister?

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 781

Armin Thurnher
am 16.07.2022

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Ein neues Update von Epidemiologen Robert Zangerle: Die aktuelle Corona-Welle wächst sich zu einer der größten aus, dennoch lassen Bund und Länder die Bevölkerung allein. Frappierend ist deren Untätigkeit auch in Bezug auf den Schutz der Ältesten, bei denen die Impfquote so niedrig ist wie kaum irgendwo anders. Und gespannt kann man sein, ob sich Vernunft bei der Ausarbeitung neuer Corona-Regeln durchsetzt. Oder nicht. A. T.

»Monatelang wurde von der auf vollen Touren laufenden Vorbereitung auf die Herbstwellegesprochen. „Vom Herbst weiß man derzeit noch nicht recht viel, außer dass er furchtbar werden soll“, dabei sei „nicht einmal klar, wovor man alles Angst haben muss“ so Christian Nusser in den Kopfnüssen. Aber jetzt ist zuerst einmal eine sehr beachtliche Sommerwelle da. In den letzten zweieinhalb Jahren hat man zwar episodisch immer wieder einmal eingebläut bekommen, wie gefährlich Corona ist. Aber aktuell, während einer der größten Wellen überhaupt, lassen Bund und Länder die Bevölkerung alleine, oder, wie es Katharina Reich, Österreichs oberste Seuchenverantwortliche so treffend formuliert: „Gleichzeitig war der politische Wunsch da, den Menschen eine wortwörtliche Atempause zu gönnen “ (paywall). Nun, die Formulierung „Atempause“ machte schon im anlaufenden Weihnachtsgeschäft 2021 stutzig, als Bundeskanzler Karl Nehammer dem Land eine solche gönnte (Duden: kurze Unterbrechung, kurze Pause zur Erholung). Auch wenn hierzulande wegen der Impfung und der vielen Infektionen praktisch alle eine gewisse Immunität haben und deshalb schwere Erkrankungen seltener sind als zuvor, wird dennoch für eine beträchtliche Zahl von Menschen eine Ansteckung nicht einfach mild verlaufen. Und auch Long Covid wird auftreten.

Spiegelt die Atempause gezielten Willen oder doch auch ein zu wenig an fachlicher Kompetenz wider? Schlittert Österreich einmal mehr planlos in eine Welle hinein, und wird man sich hinterher wieder auf die Schultern klopfen, weil man es doch gar nicht so schlecht gemacht habe: „Die Bewältigung der Krise sei der Politik – auf Landes- wie auf Bundesebene – gut gelungen“ erklärte Landeshauptmann Günther Platter zu seinem Abschied aus der Politik, und ähnlich redete Vizekanzler Werner Kogler, der im ORF Sommergespräch 2021 die Regierung und sich selber für die miserable Covid Politik im Herbst 2020 lobte („Auch bezüglich der Pandemiebekämpfung sah Kogler die Regierung gut im Rennen“). Offenbar hatte er bis dahin schon vergessen, dass Österreichs Sportminister für die phasenweise größten Sportveranstaltungen Europas verantwortlich zeichnete. Alles das stimmt einen für die nächsten Monate nicht unbedingt optimistisch. More of the same?

Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man sich vor Augen hält, dass in Österreich nur um die 10% der 80-Jährigen und Älteren eine 4. Impfung erhalten haben, obwohl bereits Anfang April das nationale Impfgremium eine Empfehlung für eine 4. Impfung für alle in dieser Altersgruppe ausgesprochen hat. Sehr geehrter Herr Gesundheitsminister Johannes Rauch, das ist unverhältnismäßig! Relativ und absolut, alles andere als normal. Was gilt eigentlich?

Einen dauerhaften indirekten Schutz der Bevölkerung („Herdenimmunität“), der SARS-CoV-2 zu einem Virus der Vergangenheit machen würde, wird es in absehbarer Zukunft nicht geben. Die Immunität ist einfach zu unbeständig („waning“), vor allem in der älteren Bevölkerung, zumal sich das Virus auch ständig weiterentwickelt. Die weitere Förderung von Impfungen, vor allem bei den am stärksten gefährdeten Personen, wird aber jedenfalls dazu beitragen, die Auswirkungen von SARS-CoV-2 auf Individuen und Gesellschaft zu verringern, insbesondere dazu, dass die Krankenhäuser nicht wie noch im März 2022 an den Rand des Abgrunds gedrängt werden, was bei der Omikron-Welle in diesem Winter/Frühjahr der Fall war. Studien zur Wirksamkeit der 4. Impfung wurden Ende März in der Seuchenkolumne ausführlich diskutiert, inzwischen liegen auch Studien über die Wirksamkeit der 4. Impfung bei Bewohnern von Pflegeheimen vor. Im Vergleich zu einer dritten Impfung war eine vierte Dosis bei Bewohnern von Langzeitpflegeeinrichtungen und bei den Ältesten in Schweden während der Omikron-Ära mit einem geringeren Sterberisiko verbunden. Die Autoren schlussfolgern, dass eine hohe Inanspruchnahme von 4. Impfungen bei alten und gebrechlichen Menschen vorzeitige Todesfälle verhindern kann. In Schweden war bereits Anfang April etwa die Hälfte der Ältesten (80+) ein 4. Mal geimpft. Ach Schweden, in Österreich wurden bis Mitte Juni selbst die Pflegeheimbewohner der Altersgruppe 80+ nur in Ausnahmefällen geimpft.

Bis zum 22. Juni waren in Österreich lediglich 5,2% der Altersgruppe 85+ ein 4. Mal geimpft, innerhalb von 3 Wochen stieg dieser Anteil auf 11,2%, wobei die Bundesländer sich deutlich unterscheiden: Ausreißer nach oben ist die Steiermark und in der Gruppe der Ältesten ist der Ausreißer (allerdings nach unten) Vorarlberg, das eine dreifach geringere Impfrate aufweist (17,9% versus 5,9%).

Was ist mit Vorarlberg los? Am 7. Juli ging es im Vorarlberger Landtag um Gesundheitspolitik und natürlich auch um Corona. Dabei sprach sich Gesundheitslandesrätin Martina Rüscher erneut für ein Ende der Quarantäneregeln für Coronavirus-Infizierte aus. Angesichts der Krankheitsverläufe und der beginnenden Personalknappheit in den Krankenhäusern und anderen Bereichen sei eine Änderung nötig, so Rüscher. Sie meint also die Isolation von Infizierten und nicht die Quarantäne von Exponierten. In Österreich werden die Begriffe Isolation und Quarantäne im Begriff „Absonderung“ zusammengefasst, was auf den Ursprung des Epidemiegesetzes von 1913 zurückgeht. Entweder kennen diese Menschen die Begriffe und die dahinterstehenden Konzepte nicht wirklich gut – und/oder eine allgemeine Verwirrung in der Bevölkerung wird ausdrücklich in Kauf genommen. Zur 4. Impfung hat sich die Landesrätin für Gesundheit (?) nicht geäußert, erst am 11. Juli ruft die Landesrätin für Gesundheit (?) angesichts der steigenden Coronavirus-Infektionen neuerlich zum Impfen auf. Vor allem vor Urlaubsbeginn solle überprüft werden, ob der Impfschutz noch gegeben sei, deshalb sei die mobile Impfstraße ab jetzt wieder 4 Tage unterwegs, um „an den Erfolg der ersten Vier-Tage-Impfwoche“ anknüpfen zu können. Als ob dieses mehr als halbherzige Ausrollen der Impfungen jemals ein Erfolg gewesen wäre.

Nicht dass Steiermark oder Wien als vorbildlich gesehen werden dürfen, dazu sind die Raten an 4. Impfungen auch in diesen beiden Bundesländern letztlich viel zu dürftig, aber im Vergleich zu Vorarlberg, Tirol und Kärnten setzen sie sich durch eine doppelt bis dreifach so hohe Rate klar ab. In den letzten drei Wochen konnte die Steiermark die Rate stärker als Wien steigern. Was hat die Steiermark anders gemacht?

Das Land Steiermark hat zwischen 7. und 17. Juni alle in der Altersgruppe 80, die schon einmal für eine Corona Impfung vorgemerkt waren, angeschrieben und in eher komplizierten Sprache auf eine Auffrischung nach einer Empfehlung des nationalen Impfgremiums hingewiesen. Ab 17. Juni war dann die noch nicht angeschriebene Gruppe 65+ dran, sie wurde entweder via Brief oder SMS verständigt, das dauerte dann weniger lang als bei den 80+. In Wien sind jetzt vermehrt mobile Teams unterwegs, die in Pflegeheimen, Tageszentren und bei Pensionistentreffen niederschwellig (z.B. ohne Anmeldung) impfen.

Eine unerträgliche Situation. Man versteht auch die Vertreter der Ärzteschaft nicht, wieso wurde da nicht gehandelt? Augen zu und durch? Eh die letzte Welle oder was? Ein Blick auf eine Karte Österreichs mit der Rate an 4. Impfung in der Gesamtbevölkerung ist diesbezüglich aufschlussreich: Im Westen Österreichs sind mir zwei Gemeinden bekannt, in denen jeweils der Arzt den Unterschied ausmachte: das sind St. Gallenkirch im Montafon (höchste Rate in Vorarlberg) und Nassereith (höchste Rate in Tirol). Was den Informationsfluss vom nationalen Impfgremium zur Bevölkerung zum Stoppen brachte, bleibt verschwommen, aber vielleicht wissen Franz Hörl, Vertreter der Seilbahnen in der Wirtschaftskammer aus Gerlos, Anton Mattle, zukünftiger Landeshauptmann aus Galtür, und Bundespräsident Alexander van der Bellen, Ehrenbürger von Kaunertal, mehr, weil in diesen Gemeinden bis zum 14. Juli niemand eine 4. Impfung erhalten hat?

Jedenfalls ist dieser desaströse Umgang mit der 4. Impfung ein Fakt, der die Sprechblasen in Politik und Medien eigentlich gnadenlos entlarvt. Wie hohl die Devise, besonders gefährdete Personen („Vulnerable“) schützen zu wollen („focused protection“), aber nichts dazuzutun, um deren Impfraten deutlich zu verbessern! Dazu passt auch der Umgang mit dem sehr wirksamen Medikament Paxlovid. Es gibt zwar keine repräsentative Bestandsaufnahme, aber haufenweise Meldungen über einen sehr zurückhaltenden Umgang mit diesem Medikament. Ablehnungen durch Ärzte reichen von „man muss die Leber und Nierenfunktion bei Betagten beachten“ bis „über Nebenwirkungen ist noch zu wenig bekannt“, sodass auch Katharina Reich, Generaldirektorin für die Öffentliche Gesundheit, in einem rezenten Interview einräumte: „Tatsächlich sind die Ärzte nicht so geübt, antivirale Medikamente zu verschreiben. Da muss man sich einlesen, fortbilden, das ist ein bisschen ein Aufwand. Da gibt es vielleicht sowohl vonseiten der Ärzte, als auch vonseiten der Patienten, die nicht wissen, wie sich ihre Medikamente mit diesen Mitteln vertragen, eine gewisse Scheu“. Unter solchen Voraussetzungen verkommt das endlich „mehr Normalität wagen“ und „mit dem Virus leben“ zu einer rein politischen Position, ohne irgendeinen wissenschaftlichen Hintergrund. Das soll normal sein?

Auf Abwegen befindet sich auch das Argument, dass der ganze Staat lahmgelegt werde, nur um „die wenigen, die es betreffen könnte, zu schützen“. Gesundheitsminister Johannes Rauch hat da auch fest umgerührt und im Morgenjournal vom Ende Juni geglaubt, die Ansicht „wir können im Sommer nicht alle Menschen einsperren“ unterstützen zu müssen, ohne dass dies irgendjemand von Relevanz verlangt hätte. Man ist dieses Spieles mit gezinkten Karten und der Diskussion mit Strohmannargumenten überdrüssig, was die Politik und ihre Vertreter in der Gesundheitsverwaltung aber nicht abhält, ein Schäuferl nachzulegen: „Wir wissen, dass sich viele erst gar nicht testen lassen, um eine Isolation zu vermeiden. Wenn wir aber dermaßen in die Incompliance abrutschen, ist die Frage, ob wir mit der Quarantäne und Isolation überhaupt noch einen epidemiologischen Effekt erzielen. Oder nicht. Das ist die einzige relevante Frage. Wenn wir nun zunehmend die Information bekommen, dass diese Maßnahme sogar das Gegenteil bewirkt, also dass Menschen alles tun, um zu verhindern, dass jemand von ihrer Infektion weiß – etwa, indem sie nur einen Wohnzimmertest machen und den geheim halten oder sich auch bei Verdacht nicht testen, dann muss man Quarantäne und Isolation hinterfragen“.

Das Befremdliche an solchen Aussagen ist nicht nur der fehlende Kontext, (was bedeutet es für unser Gesundheitssystem, wenn unsere Ältesten in der Optimierung der Immunität durch Impfungen im Stich gelassen werden?), sondern auch das Strohmannargument, dass die Isolation in der jetzigen Fassung einen gegenteiligen Effekt erzeuge? Die Bereitschaft, unsere Mitmenschen zu schützen, soll von der gesetzlichen Regelung der Isolationspflicht abhängen? Kein Wort zur (wiederholten) Fehleinschätzung der Bezirksverwaltungsbehörden und Magistrate der Statutarstädte, wie sie diesen Sommer zu bewältigen. Nicht wenige straucheln bereits, also muss vor einem befürchteten Zusammenbrechen der Behörden die Isolationspflicht oder zumindest die Administration dazu deutlich reduziert werden. Wenn dann noch die Wirtschaft aufheult, dass die Bürokratie ihnen Arbeitsplätze wegen der Milde der Omikron Varianten ungerechtfertigt wegnehme, dann muss man auf der Hut sein, dass nicht auch noch das elementare Recht auf Krankenstand zur Disposition gestellt wird.

Wieso wird nicht versucht, durch kohärente Informationen die „Incompliance“ zu reduzieren? Wieso wird übersehen, dass der Rechnungshof der Gesundheitspolitik ein gerüttelt Maß an Mitverantwortung für die „Incompliance“ gibt? Auf Seite 11: „Zu unkoordiniertem Handeln kam es nicht nur zwischen Bund und Ländern, sondern auch auf Bundesebene selbst – zwischen dem Gesundheitsministerium und dem Innenministerium. Obwohl für das Pandemiemanagement ausschließlich der Gesundheitsminister und sein Krisenstab zuständig waren, erhob auch das Innenministerium gemeinsam mit den Ländern im Rahmen des Staatlichen Krisen– und Katastrophenschutzmanagements (SKKM) – einem informellen Koordinationsinstrument ohne Verfahrensregeln – täglich die Zahlen zur pandemischen Lage. Die vom Innenministerium veröffentlichten Kennzahlen wichen von jenen des Gesundheitsministeriums ab. Diese mangelhafte Konsistenz der Daten erschwerte nicht nur evidenzbasiertes Handeln auf Seiten der Behörden, sondern wirkte sich auch ungünstig auf deren Glaubwürdigkeit und damit auf die Akzeptanz  und Wirksamkeit der Maßnahmen des Pandemiemanagements aus.“ Diese Kritik wird entweder nicht einmal ignoriert oder weggelächelt, statt den Missstand zu beheben (was ein leichtes wäre).

Einschub Vorarlberg: dort scheint man von diesem Missstand entweder nichts zu wissen oder er stößt auf endenwollendes Interesse. Am 6. Juli imponiert auf Seite 2 der „VN“ (Vorarlberger Nachrichten) nämlich die Überschrift „550 Corona-Tote in Vorarlberg“, obwohl es offiziell zu diesem Zeitpunkt 640 waren (auch für ECDC und WHO). Es ist nur deshalb erwähnenswert, weil eine unkritische Übernahme von „Vorarlberger Wahrheiten“ auch kritischen Journalisten passieren. Vor zwei Tagen berichtete Johannes Huber auf dieSubstanz.at, „rund 80% der COVID-19-Patienten werden derzeit wegen einer anderen Erkrankung in den Spitälern behandelt, die Corona-Erkrankung ist die Nebendiagnose.“ Er schließt daraus, „wenn bei einem Großteil eine Infektion nur daher festgestellt wird, könnte das darauf hindeuten, dass es auch in der Gesamtbevölkerung eine erhebliche Dunkelziffer gibt.“ Das könnte man auch von der hohen Positivitätsrate (22,5%!) oder Abwasserdaten schließen, da bräuchte es keine fragwürdigen Zahlen aus Vorarlberger Krankenhäusern. Sorry für diesen Einschub.

Im Gesundheitsministerium werden derzeit neue Coronaregeln ausgearbeitet, wie die offizielle Diktion lautet. Was da genau drinnen stehen wird, ist nicht bekannt, aber die Diskussion rund um sie herum macht große Wellen. Armin Wolf sagte in der ZIB2 sinngemäß, weil aufgrund der vielen Infektionen so viele Arbeitskräfte ausfallen, werde im Gesundheitsministerium überlegt, die verpflichtende „Absonderung“ (Isolation) nach einem positivem Corona Test abzuschaffen. Diskutiert wird z.B., dass Covid zwar eine meldepflichtige Erkrankung bleibt, dass aber die Pflicht zur Absonderung wegfällt (rechtlich), dafür aber „Verkehrsbeschränkungen“ gelten sollen. Das ist durch Novellen zum Epidemiegesetz und zum COVID-19-Maßnahmengesetz ab dem 30. Juni möglich geworden, und zwar via Verordnungen. Wer einen guten Magen hat, kann die diesbezügliche Parlamentskorrespondenz durchlesen.

Verkehrsbeschränkungen sind z.B. die Aufforderung zum Tragen einer Maske, ein Besuchsverbot in Krankenhäusern und Pflegeheimen, Ausschluss aus der Gastronomie – für die Konsumenten, aber nicht für die Arbeitnehmer u.a.

Ein wesentlicher Aspekt wird sein, welche Bedeutung solche Verkehrsbeschränkungen im Hinblick auf strafrechtliche Bestimmungen haben. Die fahrlässige Weiterverbreitung einer ansteckenden Erkrankung ist strafrechtlich relevant. Dementsprechend wichtig ist es deshalb, dass in einer neuen Verordnung ganz genau festgehalten wird, was man tun darf und was nicht. Eine Unterscheidung zwischen Personen ohne Symptome und Erkrankten wird dabei keine Rolle spielen können und dürfen, auch wenn das die Wirtschaft fordert, um das Anrüchige des ansatzweise Aushebelns der Krankenstandsregelung abzustreifen, weil es darauf ankommen soll, wie ansteckend eine Person ist. Diese Unterscheidung ist deswegen wissenschaftlich unmöglich und unhaltbar, weil es bezüglich Infektiösität es keine elementaren Unterschiede zwischen asymptomatischen (in der Mehrheit präsymptomatischen!) und symptomatischen (erkrankten) Menschen gibt – beide sind praktisch gleich ansteckend. Die Aufhebung der Absonderung (Isolation) von Infizierten wird die Juristen also ordentlich beschäftigen. Mich hat das früher leider auch beschäftigt, weil es diesbezüglich eine Reihe von eigenartigen Urteilen in der ersten Instanz gab.

Zum Abschluss noch ein kurzer Kommentar zur Ausbreitung der Sommerwelle. Zuerst ein Update einer Abbildung aus der Financial Times, in der Covid-Krankenhausaufenthalte als Prozentsatz des Spitzenwertes während der Pandemie, aufgeschlüsselt nach Virusvarianten gezeigt werden. Der Anteil der jeweiligen Omikron-Varianten an den Krankenhausaufenthalten wurde nach einem Modell des Evolutionsbiologen Tom Wenseleers aus Leuven (Belgien) veranschaulicht. Man sieht eine enorme Heterogenität der verschiedenen Länder, entsprechend den unterschiedlichen Immunprofilen (Infektionen in verschiedenen Covid-Wellen und sehr heterogene Impfraten). Infolgedessen wird das Ausmaß der BA.4-und BA.5-Wellen von Land zu Land unterschiedlich sein, in einigen Ländern können es 5 % sein, in anderen 30 %. Diese Angaben stammen von Christian Althaus, Epidemiologe der Universität Bern, der für die Schweiz etwa 15% schätzt. Der Unterschied im Immunitätsprofil zwischen der Schweiz und Österreich ist sehr gering, sodass es plausibel erscheint, dieses Szenario auf Österreich zu übertragen. Aktuell decken sich Österreich und die Schweiz bezüglich Belegung der Krankenhäuser. Ins Auge stechen die USA, die eine gewaltige BA.1 Welle hatten, aber relativ wenig Infektionsgeschehen mit BA.2, und wo die neuen Virusvarianten sich weniger explosiv verbreiten als in Europa. Keine Erklärung dafür.

Auf den ersten Blick irritierte mich die Darstellung zu Österreich: BA.1 und BA.2 nur ein Peak? Stimmt, weil hier die Covid-Krankenhausaufnahmen dargestellt sind und nicht die Fallzahlen, die durchaus zwei Gipfel zeigen. Dass eine Infektion mit BA.2 einen gewissen (?) Schutz vor einer Infektion mit BA.4/5 bietet, bezieht sich auf zwei Fallbeispiele, auf die abflauenden Wellen in Portugal und Südafrika. In beiden Ländern hatte BA.2 zuvor keine starke (schützend immunisierende) Welle ausgelöst.

In Österreich hingegen haben sich viele Personen mit BA.2 angesteckt, man erinnere sich an den schrecklichen März mit der dramatischen Reduktion von Leistungen im gesamten Gesundheitssystem und mindestens 1076 Todesfällen. Ja, die Leistungsreduktion war tatsächlich dramatisch, auch wenn das dieses Mal in den Medien nicht so breitgetreten wurde. Man könnte also durchaus damit rechnen, dass die Maximalwerte an Krankheit und Todesfällen in der Sommerwelle nicht die Ausmaße vom März annehmen, wäre da nicht Unsicherheit wegen der verheerend niedrigen Rate an 4. Impfungen bei den gefährdeten Menschen in Österreich. Bisher war die Steigerung der Belegung der Krankenhausbetten langsamer als immer wieder prognostiziert.

Wenn wir schon beim Kristallkugellesen sind: Neben vielen übertragungsfördernden Großveranstaltungen und „Urlaubsaktivitäten“ gibt es ab Juli andererseits reduziertes, übertragungsminderndes Kontaktverhalten (Arbeitsplätze leerer, Schulen zu). Zusätzlich wird ein Phänomen, das es während der Pandemie immer gab, auch dieses Mal nicht zum Versiegen kommen: Ein Rally around Reff 1, d.h. immer dann, wenn Fallzahlen und Krankenausbelegung zunehmen, werden die Menschen vorsichtiger. Wie viel das ausmachen wird, weiß am besten die Kristallkugel, ein bisschen seriöser vermuten könnte das allenfalls die sozialwissenschaftliche Initiative Austria Corona Panel Project (ACPP). Wenn sich die Politik doch mehr für die Studien des ACPP interessieren würde. Vielleicht hat sich Minister Polaschek inzwischen darüber informiert?« R. Z.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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