Der aufgeklärte Bahnfahrer. Fast eine Idylle
Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 766
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Gestern nach Wien gefahren; heiß. In Retz erwartet mich eine Siebzigerjahre-Garnitur der ÖBB, blauweiß, mit sehr strengen Sitzgelegenheiten, 2. Klasse als diese noch an die 3. Klasse grenzte. Die habe ich noch erlebt, als Holzklasse auf Dampflokstrecken in der Steiermark. Wir fuhren auf die Jungscharolympiade nach Schielleiten, eine Tagesreise oder mehr, am Ende Funkenflug um die Köpfe und Ruß im Gesicht, die Körper malträtiert von den harten Sitzen, solcherart gut eingestimmt auf die sportlichen Wettbewerbe in Leichtathletik.
Ich erlebte also eine Art Schielleiten-Effekt. Die Strecke Retz-Wien scheint in den Augen der ÖBB zum Hinterletzten zu gehören, obwohl der Bahnhof Retz gerade komplett modernisiert wurde: Null Personal, wie sichs gehört, aber Anzeigeterminals, Behinderten- und Familienparkplätze, zwei E-Tankstellen und ein Mörder-Fahrradständer inklusive.
Auch die Rückfahrt konnte nicht mit dem eleganten City-Jet angetreten werden, sondern mit dem ordinären City-Shuttle aka Wiesel, einer Proletendose mit einem Gepäckträger, der einer systematischen Volksverhöhnung gleichkommt, weil nie jemand ein Gepäckstück auf dem 15 Zentimeter Platz zwischen Ablage und Decke unterbringen wird. Man sieht die Mühseligen beladen mit Taschen und Säcken, die sie auf dem Schoß halten, weil sonst kein Platz ist. Die äußeren Sitzplätze dienen der Wirbelsäulenverformung, ein Kabelschacht zieht sich fensterseitig ungefähr auf Kniehöhe durch den Waggon und nimmt beinahe die Hälfte des Sitzes ein.
Höhnisch glänzt das W-Lan-Zeichen von den polierten Zügen, die zu Metropolen wie Wolkersdorf und Wolfsthal führen, während man auf der Reise nach Retz mit dem eigenen Handyhotspot surft. Oder eben nicht. Immerhin hat man vor sich eine kleine Ablage für den Laptop, falls einem etwa mitgeführtes Gepäck Platz lässt. Das ist besser als nichts, und die Klimaanlage funktioniert meistens.
Nein, ich stimme nicht in das aufgeregte Geblöke der ÖBB-Besserer ein, oder nicht nur. Dieses Genre hat zu Unrecht einen schlechten Ruf, denn das öffentliche Tadeln von verbesserungswürdigen Zuständen steht am Anfang der aufklärerischen Publizistik; die frühen Aufklärer genderten übrigens bereits; eine ihrer Zeitschriften hieß beispielsweise „Die vernünfftigen Tadlerinnen“. Allerdings gehört zur Aufklärung nicht nur der Tadel, sondern auch das Lob dessen, was anderen als vorbildliche Praxis kenntlich gemacht werden soll. Ich lobe also in dieser Kolumne gern, zum Beispiel das nahezu lückenlose Tragen von FFP2-Masken in Wiener öffentlichen Verkehrsmitteln trotz großer Hitze. Die Frage ist nur, wie man sich taktvoll jenen gegenüber verhält, die die Regeln brechen und – sei es aus Trotz oder aus Unwissen – maskenlos in der Gegend herumfahren. Vielleicht könnte man sich auf ein Erinnerungszeichen einigen, das man ihnen unprovozierend und freundlich weist, um sie an die Maskenpflicht zu erinnern.
Auch die ÖBB kann ich loben. Am Vorabend gelang es mir, mithilfe eines freundlichen Kundendienstmitarbeiters ein Ticket für jenen Nachtzug zu ergattern, der nach Feldkirch führt und Autos mittransportiert. Dort bekommt man schwer Liege- oder gar Schlafwagenreservierungen, deswegen beeilte ich mich, ein Ticket zu reservieren, um dann zu bemerken, dass ich kein separates Autoticket kaufen konnte.
Die Website ist diesbezüglich entwicklungsfähig. Sie müsste einem mitteilen, ein separater Erwerb des Autotickets sei nicht möglich. Tut sie aber nicht. Also rief ich die angegebene Servicenummer an, und tatsächlich hob nach etwa zwanzigminütigem Ausharren am Band jemand ab. Und das, obwohl eine Angabe auf der Website behauptet hatte, das Servicetelefon sei nur bis 21 Uhr besetzt. Eine andere Angabe jedoch versprach Service bis 24 Uhr, und sie behielt recht.
Das Ausharren am Band ist die symbolische Weise, den modernen Menschen daran zu erinnern, dass er ständig am Band gehalten wird; es ist ein freiwilliges Band, und freiwillig hört er es sich an. Er könnte ja auch auflegen und so sein Anrecht auf ein Ticket im Autoreisezug verspielen.
Gerade das aber wolle ich nicht, also blieb ich eng am Band der ÖBB, und meine Geduld wurde durch die Engelsgeduld des Servicemannes am anderen Ende belohnt.
Er wusste natürlich alles über mich und meine Buchung, das bringt das Band mit sich, an dem man hängt, es ist ein Datenband, und er wusste auch über das Problem mit der Bestellung Bescheid; ja, also das könnte man vielleicht einmal ändern, sagte er. Andererseits hätte man uns dann nicht so oft am Band.
Jedenfalls stellte sich heraus, dass der Zug, für den ich mir ein Ticket samt Schlafwagenplatz gekauft hatte, automäßig an diesem Tag bereits ausgebucht war. Gemeinsam suchten wir einen Ersatztermin. Der nette Herr buchte dann mein Ticket um, ich hatte aus einer Laune heraus eine Stornoversicherung abgeschlossen, also verlor ich bei der ganzen Transaktion außer zwei Stunden meiner Lebenszeit gerade einmal neun Euro, gewann aber die Zuversicht, dass die ÖBB tut, was sie kann.
Ich werde schlafend mit dem Auto nach Bregenz fahren und mir einen Tag ersparen, den ich sonst auf Autobahnen zwischen Wien, Passau, München und Bregenz auf gewesslerungefällige Weise mit dem Fuß auf dem Gaspedal verbracht hätte. Das ist ja auch nicht nichts.
Distance, hands, masks, be considerate!
Ihr Armin Thurnher