Leider sind auch Geimpfte und Geboosterte anfällig für die neuen Corona-Varianten

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 764

Armin Thurnher
am 27.06.2022

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Epidemiologe Robert Zangerle informiert Sie heute über den Schutz, den Impfungen und Infektionen gegen die neuen Varianten BA.4 und BA.5 bieten. Seine Mitteilungen sind eher betrüblich. Zudem sind weitere Entwicklungen des Virus zu erwarten. Ein Blick auf die Schweiz lohnt sich. Außerdem erweist sich die Übersterblichkeit durch Covid als lehrreich. Wie viele Todesopfer glauben Sie, forderte SARS-CoV-2 weltweit in den Jahren 2020 und 2021? 6,3 Millionen? 14,9 Millionen? Oder doch 21,4 Millionen? Hier erfahren Sie mehr. A. T.

»Zuerst einmal more of the same, einerseits inhaltlich, andererseits schon wieder massiv abgekupfert, dieses Mal aus einem News Artikel der Wissenschaftszeitschrift Nature: BA.4 und BA.5 haben mehr Ähnlichkeit mit BA.2 (v.a. März in Österreich) als mit dem BA.1-Stamm, der Ende letzten Jahres in den meisten Ländern die Omikron-Welle auslöste. BA.4 und BA.5 tragen eigene, einzigartige Immunfluchtmutationen (L452R und F486V). In einer Vorabveröffentlichung aus Südafrika mit Mitarbeit einiger besonders anerkannter Virologen und Epidemiologen kamen die Autoren zum Schluss, dass BA.4 und BA.5 einen gemeinsamen Ursprung mit früheren Omikron-Stämmen habe. Die durch Aufklärung über den Ursprung von HIV bekannte Evolutionsgenetikerin Bette Korber vom Los Alamos National Laboratory fand in ihren unveröffentlichten Analysen, dass BA.4 und BA.5 wahrscheinlich Ableger von BA.2 seien. Darüber hinaus behauptet sie, dass viele in öffentlichen Datenbanken als BA.2 klassifizierte Genomsequenzen eigentlich BA.4 oder BA.5 seien. Infolgedessen könnten Forscher den kontinuierlichen Anstieg dieser Varianten unterschätzen.

Der größte Teil der Welt außerhalb Asiens unternimmt wenig zur Bekämpfung der aktuellen Welle, weshalb der Anstieg – und der Rückgang – von BA.4 und BA.5 fast ausschließlich durch die Immunität der Bevölkerung bestimmt wird. Die Fälle nehmen zu, wenn der Schutz nachlässt, und gehen erst dann zurück, wenn sich genügend Menschen infiziert haben. Einzelne Länder weisen unterschiedliche Immunprofile auf (Infektionen in verschiedenen Covid-Wellen und sehr heterogene Impfraten). Infolgedessen wird das Ausmaß der BA.4- und BA.5-Wellen von Land zu Land unterschiedlich sein, in einigen Ländern können es 5 % sein, in anderen 30 %. Diese Angaben stammen von Christian Althaus, Epidemiologe der Universität Bern, dessen Schätzung, dass es etwa 15% in der Schweiz sein können, in der letzten Seuchenkolumne vorgestellt wurde. Der Unterschied im Immunitätsprofil zwischen der Schweiz und Österreich ist sehr gering (das bedeutet nichts Gutes), sodass es plausibel zu sein scheint, dieses Szenario auf Österreich zu übertragen. Ob es Unterschiede in den nächsten Wochen zwischen Schweiz und Österreich geben wird?

Die Auswirkungen von BA.4 und BA.5 auf die Gesellschaft dürften von Land zu Land unterschiedlich sein. Trotz hoher Fallzahlen gab es in Südafrika während der BA.4- und BA.5-Welle nur einen geringen Anstieg der Krankenhauseinweisungen und Todesfälle. Dagegen war während dieser jüngsten Welle in Portugal – wo die Covid Impf- und Auffrischungsraten sehr hoch sind – die Zahl der Todesfälle und Krankenhausaufenthalte ähnlich hoch wie bei der ersten Omikron-Welle (wenn auch immer noch nicht vergleichbar mit den Auswirkungen der früheren Varianten). Eine Erklärung dafür könnte die Demografie Portugals sein. Je mehr ältere Menschen in einem Land wohnen, desto schwerer ist die Krankheitslast.

Laborstudien deuten durchwegs darauf hin, dass die durch die Impfung ausgelösten Antikörper BA.4 und BA.5 weniger wirksam blockieren als frühere Omikron-Stämme, einschließlich BA.1 und BA.2. Das wird dazu führen, dass selbst geimpfte und „geboosterte“ Menschen anfällig für Reinfektionen mit Omikron sind. Der Anteil der Reinfektionen bei neuen Diagnosen im jeweiligen Monat hat seit Auftreten der ersten Omikron Varianten beständig zugenommen und liegt inzwischen bei fast 20% (AGES). Dieser Anteil wird in den nächsten Wochen durch BA.4 und BA.5 beträchtlich steigen.

Menschen mit drei Impfungen und einer früheren Infektion mit Omikron BA.1 haben Antikörper, die BA.4 und BA.5 nur schwer abwehren können. Eine Infektion mit BA.1 löst zwar eine neutralisierende Antikörperreaktion aus, doch scheint diese etwas schmaler zu sein, als man erwarten würde. Die Arbeitsgruppe um David Ho aus New York hat dazu schon wichtige Arbeiten publiziert, in einer neuen Arbeit befasst er sich zusätzlich auch mit der Neutralisation von verschiedenen Virusvarianten durch Antikörper bei Geimpften („Boosted“) und auch bei solchen mit „Durchbruchsinfektionen“, sowohl mit BA.1 als auch mit BA.2. BA.2.12.1 ist nur geringfügig (1,8-fach) resistenter gegen Seren von geimpften und geboosterten Personen als BA.2, in der folgenden Abbildung ganz links. Andererseits ist BA.4/5 wesentlich (4,2-fach) resistenter als BA.2, und führt daher mit größerer Wahrscheinlichkeit zu Durchbruchsinfektionen bei den Geimpften. Das kann gerade weltweit beobachtet werden. Die Zahlen oben in der Grafik geben den Durchschnittswert der Titer an (je niedriger diese Zahl, umso schlechter neutralisieren die Seren) und man sieht auch bei Personen mit BA.1-Durchbruchsinfektionen einen deutlichen Rückgang der Neutralisationstiter gegen BA.4- und BA.5-Viren. Eine Infektion mit Non-Omikron Varianten und Impfung (ungeboostert) zeigte gegen alle Omikron Varianten sehr niedrige Titer. Anders verhielt es sich bei Durchbruchsinfektionen mit BA.2, hier fiel der Titer um die Hälfte und nicht um das 4-fache, in der obigen Abbildung ganz rechts. (D614G ist die erste, aus dem ursprünglichen Virustyp in Wuhan hervorgegangene Variante).

Eine kleinere Studie analysierte ähnlich und kam zu ähnlichen Ergebnissen, allerdings befanden sich dort in der Gruppe mit Durchbruchsinfektionen sowohl BA.1 und BA.2, wobei 25 von 27 mit BA.1 erfolgt waren. Neutralisierungsexperimente um die Arbeitsgruppe von Kei Sato aus Japan zeigten, dass die durch BA.1- und BA.2-Durchbruchsinfektionen induzierte Immunität gegen BA.4/5 weniger wirksam ist und die Durchbruchsinfektion mit BA.2 nur wenig bessere Neutralisierung zeigte. Diese Arbeitsgruppe zeigte auch, dass im Tierversuch mit Hamstern Omikron BA.4/5 potenziell krankmachender (pathogener) sind als Omikron BA.2. BA.4/Ba.5 sind besser in der Lage, kultivierte Lungenzellen zu infizieren. Noch gibt es dafür keine epidemiologische Bestätigung aus klinischen Beobachtungsstudien. Jedenfalls ist es aber ein erneuter Hinweis darauf, dass sich SARS-CoV-2 nicht zwingend in Richtung abgeschwächter Pathogenität weiterentwickelt.

Was als nächstes kommen wird, kann man nur vermuten. Niemand kann sagen, dass BA.4/5 die letzten Varianten sind. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass noch weitere Omikron-Varianten auftauchen werden. Mehrere Stellen auf dem Spike-Protein sind identifiziert, die derzeit von den Antikörpern (noch) erkannt werden, die aber in zukünftigen Omikron Varianten mutiert sein könnten, z.B. an den Stellen („Codons“) 444-446  der Rezeptor-Bindenden-Domäne („RBD“). Andererseits werden die Hürden für ein Virus sich durchzusetzen immer höher. So könnte auch der Weg für eine völlig andere SARS-CoV-2-Variante frei werden, mit der die Immunreaktionen der Menschen nicht vertraut sind. Oder viel weniger wahrscheinlich: es käme nichts Neues mehr nach.

Zunehmend geht man davon aus, dass Varianten wie Omikron und Alpha durch monatelange chronische SARS-CoV-2-Infektionen im Menschen entstanden sind, wenn auch die Hypothese, dass sich SARS-CoV-2 zumindest zwischendurch in Tierreservoirs entwickeln kann und so zurück in den Menschen kommt, nicht ausgeräumt ist.

Als ob die Berechnungen einer Krankheitslast durch die Heterogenität im Immunitätsprofil der Bevölkerung, gemeinsam mit der Unsicherheit, die Pathogenität neuerer Virusvarianten beurteilen zu können, nicht schon komplex genug wäre, kommen noch Krankheitsfolgen (v.a. Long Covid) dazu. Krankheitsfolgen, die man noch gar nicht imstande ist, befriedigend zu klassifizieren und in ihrer Quantität adäquat zu messen. Die Sterblichkeit ist nicht nur die schwerwiegendste Folge, sondern für die Epidemiologie auch das einfacher zu Vermessende. Deshalb ist es sehr naheliegend zu fragen, wie viele Menschen sind aufgrund der Covid-19-Pandemie gestorben?

Die Antwort hängt sowohl von den verfügbaren Daten ab als auch davon, wie man „an“ definiert. Je nach Region oder Phasen der Pandemie gibt es nicht so wenige Menschen, die an einer SARS-CoV-2-Infektion sterben, aber nie auf SARS-CoV-2 getestet wurden und deshalb nicht in den offiziellen Zahlen auftauchen (das waren in den Pflegeheimen Europas nicht so wenige). Umgekehrt hatten einige Menschen, deren Tod auf Covid zurückgeführt wird, andere Krankheiten, die ihr Leben in einem ähnlichen Zeitrahmen ohnehin beendet hätten (damit das klar ist: die Minderheit!). Und was ist mit den Menschen, die während der Pandemie an vermeidbaren Ursachen starben, weil die mit Covid überfüllten Krankenhäuser sie nicht rechtzeitig behandeln konnten? Wenn solche Fälle zählen, müssen sie durch Todesfälle ausgeglichen werden, die nicht eingetreten sind, aber in normalen Zeiten eingetreten wären, wie z. B. durch Grippe oder Unfälle und in manchen Regionen durch Luftverschmutzung verursachte Todesfälle. Nicht einfach…..

Zur Vermeidung fehlerhafter Analysen, verursacht durch die Fallstricke der schwierig zu bewertenden verschiedenen Arten von Todesfällen, werden in der epidemiologischen Methodik bei Krankheitsausbrüchen, Katastrophen (Hitzesommer und anderes) alle Sterbefälle gezählt. Werfen wir einen kurzen Blick auf die Sterbefälle Österreichs der letzten Jahre, Kalenderjahre miteinander vergleichend. Statistik Austria stellt die wöchentlichen Sterbefallzahlen seit dem Jahr 2000 zum Download zur Verfügung. Erich Neuwirth, Informatiker der Universität Wien im Ruhestand, hat die wöchentlichen Sterbefallzahlen veranschaulicht. In der folgenden Abbildung sind die Jahre seit 2010 immer beginnend Mitte Juni dargestellt, die Jahre bis 2015/2016 und 2017-2018 in schwachem Grau. Man sieht, dass um die Jahreswende 2016/17 eine sehr starke Grippewelle mit überdurchschnittlich vielen Sterbefällen gegeben hat – grüne Kurve (auch in Wintermonaten anderer Jahre, aber schwächer – in grau). Am stärksten erhöht ist die Zahl der Sterbefälle kurz vor Jahresende 2020 (orange) und 2021 (braun) als Folge der Covid Pandemie.

Der Pfeil in der obigen Abbildung zeigt auf die Kalenderwochen 13 und 14 (Ende März bis Mitte April 2022), wo auch vermehrt Sterbefälle beobachtet wurden. Diese Woche ist in der folgenden Abbildung nach Graduierung einer „Übersterblichkeit“, der Standardmethode zur Erfassung von Veränderungen in der Gesamtsterblichkeit dargestellt. Die Übersterblichkeit wird in Zahlen (Scores) angegeben, welche die Differenz zwischen der Anzahl der Menschen, die in einer bestimmten Region in einem bestimmten Zeitraum gestorben sind, unabhängig von der Ursache, und der Anzahl der Todesfälle, die zu erwarten gewesen wären, wenn ein bestimmter Umstand (wie eine Naturkatastrophe oder ein Krankheitsausbruch) nicht eingetreten wäre. Dazu gibt es unterschiedliche Modelle, deren Vor-und Nachteile ich nicht wirklich beurteilen kann. Die Abbildung zeigt die Methode von EuroMOMO, eines am Statens Serum Institut in Kopenhagen angesiedelten Projekts, das vor etwas mehr als 10 Jahren gegründet wurde und die Gesamtsterblichkeit der meisten europäischen Länder erfasst (es fehlen lediglich einige mittel- und osteuropäische Staaten). Die Übersterblichkeiten Österreichs, der Schweiz und Deutschlands „scoren“ in dieser untenstehenden Karte als „moderate excess“.

Obwohl die offizielle Zahl der durch Covid verursachten Todesfälle aktuell bei 6,3 Millionen liegt, wird die tatsächliche Zahl für die beiden Jahre 2020 und 2021 nach der WHO auf 14.9 Millionen (Schwankungsbreite 13.3 bis 16.6 Millionen) geschätzt. Das Magazin The Economist hat ein Modell mit maschinellem Lernen (arbeitet mit mehr als 100 statistischen Indikatoren) entwickelt, das die aktuelle Zahl der Covid Übersterblichkeit auf 21,4 Millionen Menschen schätzt. Deren Schwankungsbreite reicht von 15,3 Millionen bis 26,1 Millionen Todesfällen. Die Covid Impfung hat den Verlauf der Pandemie erheblich verändert und weltweit mehrere zehn Millionen Menschenleben gerettet. Der unzureichende Zugang zu Impfstoffen in einkommensschwachen Ländern hat jedoch deren Wirkung eingeschränkt.

Wagen wir einen Vergleich zwischen den Covid Todesfällen in der Schweiz und Österreich. Grundlagen dafür die Originalzahlen vom Bundesamt für Gesundheit für die Zahlen aus der Schweiz und die von der AGES für Österreich. Während die Schweiz in der ersten Welle fast das Dreifache an Todesfällen zu beklagen hatte, waren es in der 2. Welle erkennbar weniger und danach markant weniger. Was hat die Schweiz anders und seit 2021 besser gemacht? Oder gibt es eine andere Erklärung?« R. Z.

 

Dazu morgen mehr.

P.S.: 4. Impfung?


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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