Sollen wir uns wegbomben, während wir auf die Entropie der Politik warten?

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 756

Armin Thurnher
am 17.06.2022

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Ist Ihnen auch manchmal fad? Blättern Sie dann im Kalender und schauen, was gestern war? Nein? Vermutlich ist es eine Alterserscheinung. Ich blättere nicht im Kalender, ich blättere in Notizen. Überlege, wie sich die Kolumne weiterentwickeln soll. Sie braucht mehr Abonnements, wenngleich sie eine der meistabonnierten täglichen Kolumnen ist, wie mir mein Datenchef bei falter.at versichert. Trotzdem verweigert er mir meinen pfiffigen neuen Aboknopf, der die Zugriffsraten in unerhörter Weise hinauftreiben würde.

Sie braucht natürlich nichts, die Kolumne. Ich brauche die Abonnements, damit es mir gut geht und ich die Gewissheit meiner knapper werdenden Lebenszeit nicht mit diesem ÖVP-Gefühl verbinden muss: schwindende Bedeutung, egal, was ich tue.

[Damit wir uns nicht missverstehen. Es mangelt mir nicht an Selbstbewusstein. Außerdem kommt demnächst wieder einmal der Epidemiologe Robert Zangerle mit einem Beitrag. Er hat sich nicht still verabschiedet, er pausiert nur wegen eines arbeitsintensiven HIV-Projekts; HIV ist sein Hauptarbeitsgebiet; nicht wegen momentan anscheinend (oder scheinbar) nachlassender Pandemie. Aber der Herbst kommt bestimmt, und umso bestimmter kommt Zangerle, lange vor dem Herbst. Ich erwähne das vor allem, um dieses Foto bringen zu können, das Irena Rosc kürzlich bei Laa an der Thaya machte.]

Foto: Irena Rosc


Das Gefühl der schwindenden Bedeutung betrifft nicht nur die ÖVP, es betrifft alle Parteien. Sie versuchen, ihre politische Kernlosigkeit mit allerlei Anstrengungen un- oder postpolitischer Art zu kaschieren. Müsste eine Sozialdemokratie, die zu politischer Orientierung fähig wäre, nicht zu mehr imstande sein als zu lumpigen 30 Umfrageprozent? Die uns, sollten sie zu Wahlergebnis werden, so sicher wie das Amen in der Litanei des Politikberaters in eine Neuauflage von Rotschwarz führen. Warum ist es nicht möglich, ein Rot-Grün-Pinkes-Projekt zumindest von Leuten formulieren zu lassen, die nicht in der Regierung sitzen und sich unrettbar ihren Gegenübern anverwandeln? Bei allen Unterschieden der Diktion: Kogler vernehammert, Maurer verwögingert.

Politisch-plastisches Denken, das Ideen angreifbar und Projekte verständlich macht, muss ausgestorben sein. Sonst würde uns längst jemand glaubhaft erklären, dass die ÖVP einmal auf ein paar Jahre aus der Regierungsverantwortung hinaus muss. Und vor allem, warum. Von West bis Ost jagt ein Skandal den anderen. Die ewige Verweildauer an der Macht (selbst in der roten Alleinregierung unter Kreisky nicht unterbrochen, da regierte eine starke Sozialpartnerschaft mit) verdarb die Sitten, weil Newcomer den alten Gebräuchen nicht widerstehen, aber nicht einmal mehr die feudal-knorrige Aura der alten Potentaten haben.

Andererseits ist Korruptionsbekämpfung kein Wahlmotiv (siehe das beklagenswerte Ergebnis des Antikorruptionsvolksbegehrens). Wenn Menschen meinen, von Korrupten besser regiert zu werden als von edlen Schwachmatikern, wählen sie die korrupten Schlaucherln. Weil sie sich in ihnen wiedererkennen?


Zum Unterschied von der ÖVP holen mich keine Missetaten der Vergangenheit ein, weswegen ich auch nicht die Hand für mich ins Feuer zu legen brauche und keinen Politikberater habe. Dennoch möchte ich lieber Leserinnen und Leser dazugewinnen, als sie zu verlieren. Das beinah tägliche Seuchenpaket, kommt es zu oft?

Ist es zu vielfältig, zu einfältig, fehlen Variationen, ist es zu wenig konsequent oder doch zu wenig radikal? Vielleicht sollte ich mir wie manche Kollegen einen Medienberater zulegen, einen, der mir sagt, was ich mache, um mehr Abonnentinnen zu bekommen?


Ich nehme heute eine Anleihe bei Adam Tooze, der in seiner beinahe täglichen Kolumne immer wieder einfach eine Reihe toller Fundstücke präsentiert. Sehr beeindruckt hat mich kürzlich dieses, das die Verrücktheit der Welt eindrucksvoll zeigt. „ESG and the military-industrial-complex gone mad (CSR und der militärisch-industrielle Komplex sind verrückt geworden)“ schrieb er zur Abbildung des folgenden Tweets des Waffen- und Nachrichtendienst-Konzerns Raytheon:

Kann es sein, dass die ultimative Lösung der Klimakatastrophe darin besteht, die Menschheit auf umweltverträgliche Weise wegzubomben? Nachhaltig und fortschrittlich wäre es gewiss, nicht so Zweiter-Weltkrieg-Old-School wie es die Russen machen. Denkverbote müsste man nach einer solchen späten Antwort auf den Urknall keine mehr beklagen.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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