Wir, bedrängte Bedränger. Notizen zur Öffentlichkeit

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 749

Armin Thurnher
am 08.06.2022

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Wer sich um Journalismus Sorgen macht und die Zerstörung von Journalismus als eine der großen Seuchen unserer Tage begreift, der darf sich dieser Tage noch viel mehr Sorgen machen.

Vorausgeschickt sei wie immer, dass ich, wenn ich „Journalismus“ sage, mehr an die Idee von Journalismus denke als an dessen traurige Realität, auf die der Karl-Kraus-Satz meistens zutrifft, der da lautet: Der Journalismus hat keine Auswüchse, er ist einer.

Jedoch könnte wohlverstandener Journalismus, also redaktioneller, faktenorientierter, kritikfähiger (nicht meinungsstolzer) und wortempfindlicher Journalismus als Heilmittel für unsere gereizte, aus den Fugen geratene Zeit dienen, worauf bekanntlich zum Beispiel der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hingewiesen hat.

Wir müssen, sagt er, unsere Wahrnehmungen und Äußerungen, die allesamt medialisiert sind, einer gleichsam redaktionellen Selbstkontrolle unterwerfen, das heißt, wir müssen innehalten, ehe wir etwas hinausblasen, und wir müssen uns die Zeit nehmen, die Fakten zu überprüfen, wir müssen zudem eine Art Faktenprüfungsfähigkeit erwerben, mit einem Wort, alle an der Öffentlichkeit Teilnehmenden müssen journalismustauglich werden.


Ich möchte hinzufügen, wir sollten versuchen, unsere Äußerungen phrasenfrei zu halten. Wenn alles nur mehr in Rücksicht auf eine mediale Öffentlichkeit geäußert wird, beeinflusst das die Mittel unseres Sprechens, und das bedeutet nicht nur, dass es unseren Stil verdirbt. Es verdirbt die Substanz dessen, was wir sagen wollen, wenn wir nicht zuerst an das denken, was wir sagen möchten, sondern daran, wie wir es sagen möchten, wie es aufgenommen wird, und welche Mittel wir einsetzen könnten, um diese Wirkung zu erhöhen.

Wir sollten also vom Wirkungsdenken zu einem Sachdenken zurückkehren.


Gestern fing ich an, vom Nudgen zu schreiben. Wenn man seine Äußerungen unter diesem Gesichtspunkt überlegt, könnte man auch sagen: Weder nugdge man andere, noch lasse man sich selbst nudgen. Freilich, Nudging-Opfer sind wir alle; zumindest mache man sich die Einflüsse klar – oder versuche es – denen man unterliegt, wenn man etwas sagt.

Die allgemeine Verwirrung der Öffentlichkeit ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass nichts Unbedrängendes mehr geäußert wird, alle wollen uns zu etwas veranlassen. Und dass nichts von unseren Reaktionen oder Aktionen unbeobachtet, unregistriert oder undokumentiert dahingeht. Ob das Publikum sich dessen bewusst ist oder nicht: eine Öffentlichkeit dieser Art, bedrängt, bedrängend, überwacht und aufgezeichnet, ist neu und kann nur mit großen Verrenkungen als die Vollendung von Freiheit dargestellt werden.

Den Stand der Dinge bemerkt man auch daran, dass traditionelle Öffentlichkeiten des Diskurses wie zum Beispiel Parlamente verlottern und verkommen. Wolfgang Sobotka ist ein Inbild dieser Verlotterung. Sein schlampiges, schludriges, ans Absurde grenzendes Sprechen, ja, seine Person gewordene Sprechstörung, die mit all ihren Störungen vorgibt, Neutralität zu schützen, dabei aber immer die Zwecke der Parteilichkeit verfolgt, ist in unseren Breiten ein Symbol für diese Verlotterung.


Logo des Kongress-Komitees zur Untersuchung des 6. Jänner 2021

Morgen, Donnerstag, präsentiert in den USA der Kongress-Ausschusses, der den Sturm auf das Kapitol vom 6. Jänner 2021 untersuchte, seine Ergebnisse. Sie würden normalerweise in Form eine parlamentarischen Rede präsentiert; die Gegenseite würde mit Gegenreden reagieren. Über diesen Zustand schlichter Agora-Simulation sind wir natürlich längst hinaus. Mittlerweile zielen Rede und Gegenrede auf jene Medienöffentlichkeiten, die sie bedienen und deren Echo sie kalkulieren, um es dann entsprechend weiterzubehandeln.

Dennoch schien es mir neu und bemerkenswert, als ich las, der Ausschuss des Repräsentantenhauses habe sich an einen renommierten ehemaligen Nachrichtensprecher gewandt, „um einen Berg explosiven Materials in eine fesselnde Multimedia-Präsentation für eine Anhörung zur Hauptsendezeit am Donnerstag zu verwandeln. James Goldston – ehemaliger Präsident von ABC News und ein Meisterdokumentarerzähler, der ,Good Morning America‘ und ,Nightline‘ leitete – ist dem Komitee unangekündigt als Berater beigetreten“, berichte die Plattform Axios.

Goldston produziere die Präsentation wie ein Blockbuster-Ermittlungs-Special, eine Doku aus Live-zeugen und produziertem Video-Material. Er richte sich zugleich an das breite Publikum, die Journalisten und alle Menschen, die mit der Materie nicht vertraut sind, aber am Donnerstag in einem der TV-Netzwerke live zusehen werden. ABC und CBS übertragen live im Hauptabendprogramm; republikanische Senatoren buchen bereits Interviewplätze für ihre Gegendarstellungen.


Ich halte das für keine gute Nachricht. Politik begibt sich ihrer eigenen Formen und macht sich journalistisch, aber gerade nicht in dem Sinn, den Pörksen meint. Nicht in einem Sinn, der Raum zur Reflexion, zur Besinnung, zum Abwägen und zum Innehalten schafft. Sondern in einem Sinn, der uns vielmehr in Blockbuster-Art überwältigen, mit Emotion bedrängen und unsere Aufmerksamkeit kapern will. Politik medialisiert sich immer weiter. Kein Wunder, dass ihr niemand mehr glaubt.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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