Die Anti-Nudging Kolumne

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 748

Armin Thurnher
am 07.06.2022

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Verschiedentlich tauchen Wünsche und Beschwerden auf, den Inhalt dieser Kolumne betreffend. Das ist gut, denn es zeigt, dass sie am Leben ist. Zum Beispiel werden die Berichte meiner Besuche bei Muttern mehr gelesen als das meiste andere, wenn nicht gerade ein Kanzer zurücktritt. Andererseits sind diese Berichte manchen im Publikum zu privat, oder sie meinen, mir gingen die Themen aus, und ich solle sie mir derlei Kram verschonen. Das sage ich auch, mit derlei Unfug lasse man mich in Ruhe.

Diese Kolumne, um es wieder einmal zu sagen, ist eine Seuchenkolumne, aber sie umfasst das ganze Leben der Seuchen, das ganze Leben als Seuche. Ich will nicht sagen, das Leben als Krankheit zum Tode, aber mit etwas gutem katholischem Willen kann man es auch so sehen. Deswegen strotzt es nur so von Elegien (Nänien wäre genauer) auf Menschen, die von uns gehen, die sterben, Freunde, mir Wichtige, deren Tod mich betrübt oder kränkt, weil sich die Lücken nie mehr schließen, wie ein Gottseidank noch lebender Freund sagte.

Auch in meinen Abgesängen bin ich einigermaßen erratisch, es wird ja viel gestorben, und je älter ich werde, desto mehr um mich herum. Die Einschläge kommen näher. Ich würde es mir verbitten, würde man meine Elegien bekritteln. Die Gespräche mit meiner Mutter, so selten sie hier vorkommen, und so selektiv sie publiziert werden, sind Anti-Elegien; ich treffe in ihnen auch mich selber.

Es gibt ein Lied von Peter Gabriel (oder war es Eric Clapton?), wo er beschreibt, was er eines Tages vor dem Spiegel empfindet. I looked into my fathers eyes, singt er. Jedesmal, wenn ich nach Hause fahre, bin ich mit mir selbst konfrontiert. Mit der, die mich, mit dem, was mich gemacht hat. Ich lerne nichts daraus, aber ich sehe es, ich sehe die Ähnlichkeiten, das Prägende. Es ist nicht immer angenehm, aber immer lehrreich. Weil die Kolumne auch eine Art Tagebuch ist, wird es hier zum Teil aufgeschrieben. Keine Sorge, die härteren Erkenntnisse behalte ich für mich. Und wahrscheinlich vergesse ich sie gleich wieder.


Schwester und Mutter beim abendlichen Spaziergang am Bregenzer Bodenseeufer

Dass meine viel bewunderte Mutter ihr Leben weiterhin so führen kann, verdankt sie meiner Schwester, die sich jeden Tag um sie kümmert, Einkäufe erledigt, kocht, den Alltag organisiert. Dass diese Leistung viel weniger bewundert wird als das lange, würdige Leben meiner Mutter, ist eine Quelle für Konflikte eigener Art, die unauflöslich scheinen. Natürlich ist, was Schwester tut, eine Art diskreter Pflege, die niemand bezahlt. Was geschähe im Land Österreich, würden diskret und weniger diskret pflegende Angehörige ihrer Leistung entsprechend entlohnt? Umverteilungen größerer Art wären fällig, aber klar ist: es sind meist Frauen, die solche Leistungen erbringen, und nicht immer können sie es sich leisten, aber sie leisten es sich nicht, darauf zu verzichten, diese Leistungen zu erbringen. Von der notwendigen, aber unterbleibenden Supervision für Pflegende rede ich gar nicht. Ich konnte bei einer anderen Verwandten, einer Palliativschwester der Caritas beobachten, wie sie sich bei der Betreuung anderer berufsmäßig aufrieb, selbst unbetreut, was in totaler Überanstrengung und einer Krebserkrankung endete. Mit knapper Not rettete sie sich in die Pension. Und wir leben noch in einem Sozialstaat, der verglichen mit anderen Ländern als luxuriös erscheint.


Diesen kurzen Schlenker musste ich mir gönnen. Politik und Journalismus, also Journalismuskritik und Politikkritik sind unabdingbare Inhalte der Kolumne. Ebenso sind es die Abweichungen davon. Handelt die Kolumne zum Beispiel von Natur, geht die Zustimmung in Form von Briefen hinauf, und die Frequenz geht hinunter. Bei Lyrik geht beides hinunter, und der Teufel soll mich holen, wenn ich deswegen beginne, auf Lyrik zu verzichten.

Die Kolumne ist vor allem ein angewandter Versuch in Anti-Nudging, also ein permanenter Protest gegen die meisten Formen medialen Seins, ja gegen die medialisierte Form unseres Daseins, das insgesamt von vorn bis hinten genudged ist, also digital in eine gewisse Richtung geschubst, hier nicht anecken, dort nicht provozieren, aber immer im Auge behalten, was geht, was ankommt, was gefällt. Und immer das Richtige konsumieren.

Das Nudgen ist eine Seuche, die natürlich an mütterliche Tätigkeiten erinnert, die uns unnatürlich bemuttert. Denn wenn mich etwas in eine bestimmte Richtung drängt, dann aber doch lieber ein Mensch aus Fleisch und Blut als ein Algorithmus, oder jemand, dessen Verhalten algorithmisch getaktet ist. Schon deswegen, weil ich die Wünsche von Menschen leichter abschmettere. Autonomie ist übrigens nicht eine Bezeichnung für Terrorismussympathie, sondern für menschliche Freiheit, für das Ziel aller demokratischen Politik und Ethik.

Morgen fahre ich wieder nach Hause. Ich kann aber nicht garantieren, dass ich nicht noch öfter auf meine Mutter zu sprechen kommen werde.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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