Ist Wladimir Putin ein Faschist? Timothy Snyder weiß die Anwort.
Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 742
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Ein Problem, das mir regelmäßig Bauchschmerz verschafft, ist der Anti-Antisemitismus. Oft, vielleicht sogar fast immer, ist er ernst gemeint und versteht sich als Kampf gegen den scheinbar unaustrottbaren Antisemitismus. Wird er monothematisch, also schmückt er eine durch und durch reaktionäre Politik, kann er dennoch verdächtig werden. Selbst in solchen Fällen plädiere ich vor mir selbst dafür, im Zweifel für den Anti-Antisemiten zu sein.
Ganz offensichtlich ist das Problem im Fall von Wladimir Putin, der ja bei seinen Aktionen in Anspruch nimmt, der oberste Antifaschist zu sein, und dafür nicht nur – wie hiesige Antifaschisten – seine Rhetorik einsetzt, sondern auch noch jene Millionen von Landsleuten instrumentalisieren kann, die im Kampf gegen das nationalsozialistische Dritte Reich ihr Leben ließen.
Bei Putin wird sich niemand schwertun, ihn als Bösewicht zu identifizieren. Dennoch braucht es Argumente. Kürzlich erhielt ich Argumentationshilfe von Timothy Snyder. Das Eingangsargument scheint etwas hölzern, denn Snyder meint, faschistische Politik beginne, „wie der Nazi-Denker Carl Schmitt sagte, mit der Definition eines Feindes“. Ich lasse dahingestellt, ob Schmitt nur ein Nazi-Denker war oder nicht eher ein Denker im Dienst der Nazis (das macht einen Unterschied) und ob faschistische Politik mit diesem Beginn – der zweifellos zu ihr gehört – nicht etwas schlicht definiert ist. Aber was Synder weiters sagt, scheint mir sehr einleuchtend:
„Da der sowjetische Antifaschismus nur die Definition eines Feindes bedeutete, bot er dem Faschismus eine Hintertür, durch die er nach Russland zurückkehren konnte.
Im Russland des 21. Jahrhunderts wurde der ,Antifaschismus‘ einfach zu dem Recht eines russischen Führers, nationale Feinde zu definieren. Tatsächliche russische Faschisten wie Aleksandr Dugin und Aleksandr Prochanow bekamen Platz in den Massenmedien. Und Putin selbst hat sich auf die Arbeit Iwan Iljins berufen, des russischen Faschisten aus der Zwischenkriegszeit. Für den Präsidenten ist ein ,Faschist‘ oder ein ,Nazi‘ einfach jemand, der sich ihm oder seinem Plan zur Zerstörung der Ukraine widersetzt. Ukrainer sind ,Nazis‘, weil sie nicht akzeptieren, dass sie Russen sind und Widerstand leisten.
Ein Zeitreisender aus den 1930er Jahren hätte keine Schwierigkeiten, das Putin-Regime als faschistisch zu bezeichnen. Das Symbol Z, die Kundgebungen, die Propaganda, der Krieg als reinigender Gewaltakt und die Massengräber rund um ukrainische Städte machen es sehr deutlich. Der Krieg gegen die Ukraine ist nicht nur eine Rückkehr zum traditionellen faschistischen Schlachtfeld, sondern auch eine Rückkehr zur traditionellen faschistischen Sprache und Praxis. Andere Völker sind dazu da, kolonisiert zu werden. Russland ist unschuldig, weil es eine uralte Vergangenheit hat. Die Existenz der Ukraine ist eine internationale Konspiration. Krieg ist die Antwort.
Da Putin von Faschisten als Feind spricht, fällt es uns vielleicht schwer zu begreifen, dass er tatsächlich ein Faschist sein könnte. Aber in Russlands Krieg gegen die Ukraine bedeutet ,Nazi‘ einfach ,untermenschlicher Feind‘ – jemand, den die Russen töten können. Hassreden gegen Ukrainer machen es leichter, sie zu ermorden, wie wir in Bucha, Mariupol und allen anderen Gegenden der Ukraine sehen, die unter russischer Besatzung stehen. Massengräber sind kein Kriegsunfall, sondern eine erwartete Folge eines faschistischen Vernichtungskrieges.
Wenn Faschisten andere Menschen als ,Faschisten‘ bezeichnen, ist das Faschismus in seiner unlogischen Zuspitzung als Kult der Unvernunft. Es ist ein Endpunkt, an dem Hassreden die Realität auf den Kopf stellen und Propaganda reines Beharren ist. Es ist der Gipfel des Willens über das Denken. Andere als Faschisten zu bezeichnen, während man selbst ein Faschist ist, ist die wesentliche Praxis der Putinisten. Jason Stanley, ein amerikanischer Philosoph, nennt dies ,unterminierende Propaganda‘. Ich habe es ,Schizofaschismus‘ genannt. Die Ukrainer haben es am elegantesten formuliert. Sie nennen es ,Ruschismus‘ (Ruscism).“
Ob ich „Ruscism“ mit Ruschismus korrekt übersetze, weiß ich nicht. Die Kreation gefällt mit. Dass Antiruschismus nicht in Frage kommt, ebenso. Die Frage des Antiantiruschismus entfällt somit ganz.
In unserer Welt der alles verkehrende Lügenrede ist es klar, dass ein Faschist seine Gegner zu Faschisten erklärt. „Unterminierende Propaganda“ ist in diesem Zusammenhang ein erhellender Begriff, und der Wille, der das Denken außer Kraft setzt, ist nur ein anderer Ausdruck für den Krieg gegen die Aufklärung, der sich darin ausdrückt, und der noch in den geistig bescheidensten Anwürfen von Twitter-Trollen aufscheint.
Oder darin, dass man öffentlich und unverschämter lügt, wie kürzlich Donald Trump, als er vor der amerikanischen Waffenlobby NRA erklärte, dass die gefährlichsten Zonen jene ohne Waffen seien; schade nur, dass die Zuhörer zuvor ihre Waffen abgeben mussten, um Trump nicht in Gefahr zu bringen. Österreichische Beispiele erspare ich uns zwecks Magenschonung am Wochenbeginn.
Die Aufklärung mag unterliegen, und der Faschismus mag siegen; ich tröste mich damit, dass das temporär sein kann, nie endgültig. Ein schwacher Trost, aber immerhin einer von Nestroy: die Zeit ändert viel. Was jemanden, der keine Zeit hat, wie die ukrainische Regierung, naturgemäß überhaupt nicht tröstet.
Distance, hands, masks, be considerate!
Ihr Armin Thurnher