Atmen mit Peter Handke. An Julian Assange denken. Und Amseln.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 730

Armin Thurnher
am 16.05.2022

Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:

Wissen Sie, was Luxus ist? Es ist Luxus, alle Themen zu vermeiden, die einem das Rattenrennen der Publizistik auf den Tisch zu legen scheint. Stattdessen könnte man versuchen, einmal zu atmen. Bin ich verrückt geworden?

Julian Assange Foto: Wikipedia, David G. Silvers

Gewiss. Ich lasse mir meine grauen Haare wachsen und werde statt zum Altersreaktionär zum Alterslinken. Nein, ich fange auch diese Woche nicht mit der Ukraine an. Obwohl zwei Dinge mich täglich mehr erstaunen, nicht analog zum ollen Kant, sondern ganz wirklich mich ergreifend. Erstens die feministische Außenpolitik und zweitens die Nonchalance, mit der die Welt zusieht, wie ein englischer Hochstapler und Lügner in der Downing Street Julian Assange möglicherweise demnächst einem amerikanischen Präsidenten ausliefert, der ihn als Terroristen bezeichnet hat und ihm 150 Jahre Gefängnis verspricht.

Wo ist eigentlich Edward Snowden? Ja, das Land of the Free ist auch nicht mehr, was es einmal war, und Dissidenz zu Ruhm und Ehre des Westens hat definitiv keine Konjunktur. Der Freiraum auf der Erde wird spürbar enger. Uniformität ist das Gebot der Stunde, die Sache der Nato, The Cause verlangt eben ihre Menschenopfer, und seien wir froh, dass wir nicht unter der Aztekenherrschaft leben, wo man ihnen bei lebendigem Leib die Herzen aus dem Leib schnitt, den Opfern, sondern wo man sie nur lebendig begräbt, in irgendwelchen Botschaften oder irgendwelchen Hochsicherheitstrakten.

Dem Fall Julian Assange würde ich ein Promille jener Aufmerksamkeit wünschen, die der ukrainische Präsident erhält. Ich glaube, die einzige Lösung bestünde darin, dass Wolodimir Selenskyj sich für die Freiheit Assanges ausspräche. Ich gehe nicht so weit, das zu fordern oder auch nur zu hoffen, dass ihm jene feministische Außenpolitik, auf die ich so viel Hoffnung gesetzt habe, ein wenig ihrer Empathie zuwenden möge. Erlaube mir nur, darauf hinzuweisen, dass man Herrn Assange nicht nur nicht vergessen sollte; auch in seinem Fall steht viel Freiheit auf dem Spiel, seine, aber durchaus auch unsere. Die waffenproduzierende Industrie hat er in keinem Fall auf seiner Seite.


Schon außer Atem? Sehen Sie, das wollte ich vermeiden. Gestern, Sonntag morgen, tat ich, was ich immer tue, wenn es mir am Sonntagmorgen möglich ist: ich höre die älteste Sendung von Ö1, die würdigste und trotz ihres Alters immer wieder frische, ich höre die Sendung „Du holde Kunst“, mit Texten von Peter Handke und Musik von Jean Philippe Rameau und Hyacinthe Jadin. Ja, den kannte ich auch nicht, aber seine Streichquartette waren eine Entdeckung, ebenso Handke, der mir manchmal auf die Nerven geht, nicht aber, wenn ihn Dörte Lyssewski liest. „Anschauung macht musikalisch. Ins Anschauen geraten heißt ins Schwingen geraten, ins Mitschwingen, mit tonlosen Tönen, und dazu das Angeschaute, das Gegenüber, als Echoraum. Freilich muss das Gegenüber ein Anschauen ermöglichen und danach sein. Entsteht nicht auch ein gewisses Zuhören durch die Räume, als Musik?“

Das ist der gute alte romantische Wunsch, die Dinge schwingen zu hören, aber ohne dass sie das erlösende Zauberwort preisgeben müssen, das es ohnehin nicht gibt. Der Zauber ist schon die Erlösung, und die Gier, sie durch Aussprechen herbeizuführen, macht sie unmöglich.


So schwang ich in den Tag hinein und freute mich, in the middle of fucking nowhere zu sein, wo es mir motorenungestört gelang, die große Buche zu hören, und in der großen Buche die Blätter, die Äste, wie sie der Wind bewegt, und Dutzende Vögel singen, die von den mir bekannten benachbarten vier Mördern im Pelz zu deren Bedauern noch nicht gefressen werden konnten.

Ich beginne die Woche also mit den wichtigen Nachrichten aus meinem Echoraum, den ich ohne jede schnöde Konnotation mit digitalem Schmutz so nennen kann, es ist ein Echoraum, in dem die Rotschwänzchen aufgeregt ihre Jungen aus dem Nest locken (diese sind, ich sagte es hier mehrfach, die Dümmsten, der Katzen feile Beute); die Schwalben sind wieder da und scheißen auf die gleiche Schwelle, diesmal haben sie die Tür zur Werkstatt ausgewählt, die kommt im Zweijahresrhytmus dran. Die Bachstelzen sind im wilden Wein zugange, und dem Frieden von Eisheiligen mit Sommertemperaturen traue ich sowieso nicht.

Es wird sein wie jedes Jahr: Regen, Kälte, Bachstelzenjunge, die nicht vom Boden hochkommen und vor dem trotz seines Alters gefräßigen Kater beschützt werden müssen. Der Kerl, schlappe Neunzehn, im Winter noch einem ausgewrungenen Fetzen gleich an den Ofen drapiert, hat beim vielversprechenden Vogelgesang wieder neue Lebenskräfte geschöpft und legt sich jeden Tag auf die Lauer.

Soweit also alles beim alten. Nur dass eine Amsel unter dem Thermocleardach des Tomatenbeets ein Nest gebaut hat. Vier Eier, und jetzt schaut sie blöd, weil wir im Garten zu tun haben. Aber wir sind im Begriff, uns aneinander zu gewöhnen. Atmen ist alles, atmen ist Mitschwingen, ist anhörendes Sehen oder sehendes Anhören, sage ich der Amsel, und das sage ich auch Ihnen.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:

Weitere Ausgaben:
Alle Ausgaben der Seuchenkolumne finden Sie in der Übersicht.

12 Wochen FALTER um 2,50 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!