Fahrradnotizen. Eine Erinnerung aus Friedenszeiten.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 722

Armin Thurnher
am 06.05.2022

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Fahrradumsatz knackt erstmals Milliardengrenze. Das klang vor ein paar Tagen wie eine gute Nachricht, wenngleich beim Anblick von zeitgenössischen Fahrradshops mich die blanke Wehmut befällt. Und ich verzage: sieht denn niemand die Militarisierung, die Hummerisierung auch bei Fahrrädern, mit ihren breiten Angeberstoller, die entschlossenen Gesichter unter den Helmen, die zur Schau gestellten Muskeln, das angeberische Tempo? Krieg auf dem Fahrradstreifen, der mag notwendig sein bei der Durchsetzung gegen noch schlimmere toxische Autofahrer. Aber er scheint mir doch dem Wesen des Fahrrads zu widersprechen.


Waffenrad im Technischen Museum Foto: Máté Őry, Wikipedia

Die Milliardengrenze macht mich an die Fahrräder meiner Jugend denken. Das erste Fahrrad war ein schweres, schwarzes Waffenrad des Großvaters (kein Kriegsgerät!), man musste unter die Stange einfädeln, um beide Pedale zu erreichen. Über die Stange kamen die zu kurzen Beine nicht. Stürzte man – wie bei den ersten Versuchen unvermeidlich – dann schlug einem das schwere Gefährt blaue Flecken. Es hatte keine Gangschaltung, selbstverständlich nicht, es hatte Holzgriffe an der Lenkstange und keine Bremskabel, sondern eine Stange, die vom Bremsgriff abwärts lief; die Hauptbremse aber war der der Rücktritt..


Das nächste Fahrrad war ein Puch. Puch Jungmeister. Ein Weihnachtsgeschenk, die einzigen Weihnachten, bei denen ich auf Grün hoffte (sonst gabs oft was zum Skifahren, Skier oder einen Anorak). Mein erstes Puch-Rad hatte keine Schaltung, das war besser für die Kleinen. Es war rot; ich mochte die roten Puch-Räder, die Alternative war Grün, sonst gab es nichts. Okay, goldgelb, aber das kam nicht in Frage. Niemand wollte ein gelbes Rad, höchstens der Deutschlehrer. Die Metzgerstocher Hilde begegnete mir bei der ersten Ausfahrt am Christtag, auch sie hatte ein Fahrrad bekommen, auch ihres war rot. Wir strahlten einander an, als wir würdevoll auf der aperen Arlbergstraße, Bundesstraße Nummer 1, aneinander vorbei fuhren.


Die Firma Puch gab ihr Fahrradgeschäft auf, kurz ehe der Fahrradboom einsetzte. Vife Zeitgenossen wussten aus Amsterdam, wo die dortigen Anarchisten, Klabautermänner genannt, weiße Fahrräder hatten, die einfach so herumlehnten. Man nahm ein Fahrrad, fuhr irgendwohin damit und lehnte es wieder an die Wand. Oder stellt es in einen Fahrradständer. So erzählte man es sich, und im Amsterdam der früher 1970er Jahre kam man sich als Autofahrer bereits vor wie ein Außenseiter.


Der Fahrradständer in der Bregenzer Mittelschule hatte Platz für hunderte Fahrräder, denn alles, was nicht in der Nähe wohnte oder von weiter auswärts mit dem Zug einpendelte, kam mit dem Fahrrad, Schüler, wie Lehrer. Bei jedem Wetter. Niemandem wäre es eingefallen, mit dem Auto zu kommen, weil erstens kaum jemand eines hatte und weil zweitens das Fahrrad praktisch war. Die Arlbergstraße, hatte (und hat) einen recht komfortablen breiten Fahrradstreifen, seit sie asphaltiert wurde. Das geschah in den späten 1950ern, der Fahrradstreifen war aus weißem Asphalt, das war schon etwas Besonderes, und stadtauswärts gab es einen eigenen Radweg, der streckenweise unterhalb der Hauptstraße verlief.


In der vierten Klasse Gymnasium bekam ich ein Dreigangrad, von Puch, selbstverständlich. Rot. Es gab nichts als Puch-Fahrräder für den Alltagsgebrauch. Die zwei Fahrradgeschäfte in Bregenz waren für größere Reparaturen zuständig; kleinere machte man selber. Dazu hatte man immer ein kleines Werkzeugset dabei, vor allem ging es darum, den Schlauch zu flicken, die poröse Stelle aufzuspüren (mittels einer Schüssel voller Wasser) und sie anschließend mit einem kleinen Gummifleck zuzukleben. Fahrradputzen war ebenfalls Routine, dafür hatte man einen Fetzen, aber auch Reinigungscremen für die Chromteile.


Mein Fahrradgeschäft war Widmer, gleich hinter dem Bahnhof, schräg vis-à-vis der berüchtigten Milanobar. Beda Widmer, Vater des gleichnamigen Mitschülers, sah haargenau so aus wie dieser und war in seiner katholischen Wohlanständigkeit ein absoluter Gegensatz zu diesem Etablissement, dessen Musicbox und Betretungsverbot uns magisch anzogen. Sahen früher Väter ihren Söhnen ähnlicher? Nein, ich kannte nur mehr solcher Paarungen. Wie aus dem Gesicht grissen, sagt man im Dialekt. Widmer senior sah aus wie Widmer junior, allein deswegen besuchte man sein Geschäft gern. Gleichmütig und freundlich nahm er die üblichen Reparaturen vor, meist handelte es sich um gerissene Bremsseile, manchmal auch um Gangschaltungsprobleme (eher selten, die Puch-Räder waren Büffel) und kassierte dafür ein paar Schilling. In seinem grauen Mäntelchen stand er im Geschäft, an das die kleine Werkstatt grenzte, es roch nach Öl, und es standen immer ein paar neue Modelle herum, aber nie mehr als fünf, sechs.


Rih war das Rennrad. Dass es aus der gleichnamigen Werkstätte in der Wiener Praterstraße kam, wussten wir nicht. Zwar gab es auch Jungmeister mit Sportlenkern, aber Rih war das echte Ding. Unerreichbar teuer, im Alltag sinnlos (die schmalen Reifen), aber vielbewundert. Radsport war eine Nachkriegssportart, das Bodenseestadion hatte um den Rasen eine Aschenbahn für Leichtathleten und eine Betonbahn, vor allem für Radrennen. Es gab sie, Steher und Verfolgerrennen, bis der Beton zu rissig wurde. Es lohnte sich nicht, ihn zu reparieren. Einmal im Jahr kam die Österreich-Radrundfahrt durch Bregenz, wir setzten uns an der Straßenrand und bestaunten die Kerls in den bunten Trikots, die an uns vorübersurrten. Manchmal gab es auch Rundrennen, dann konnte man verfolgen, wer in Führung lag, und hatte den Vorteil, dass der Pulk alle Viertelstunden vorbeikam.


Wir saßen auf der Böschung und vertrieben uns die Zeit. Jungmeister waren wir alle.


Distance, hands, masks, be considerate! Ihr Armin Thurnher

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