Abschied von Ivica Osim. Begrüßung der neuen Armut.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 718

Armin Thurnher
am 02.05.2022

Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:

Ivica Osim als letzter jugoslawischer Nationaltrainer Foto: Sturmnetz.at

Ich mag nicht jede Woche eine Elegie schreiben. Obwohl dieser Herr wirklich eine verdient hätte: Ivica Osim, der große Strauß, der Philosoph unter den Fußballtrainern. Er spielte bei Željezničar Sarajevo (von dem einige von mir bewunderte Kicker kamen, Ilijas Pašić und der tragischerweise später von einem Heckenschützen ermordete Sulejman Kulović, beide Stützen von SW Bregenz in den 1960er Jahren). Željezničar, das waren die Eisenbahner von Sarajevo, und Osim litt schwer unter dem, was man dieser seiner Heimatstadt angetan hatte. Als geschah, was er später als Völkermord bezeichnete, war er selbst in Graz. In einem Falter-Interview sagte er später, Jugoslawien sei super gewesen, weit besser als alles, was danach kam. Er litt daran. Am Ausverkauf, am Abbau des Sozialstaats, an der Bildung von Oligarchenvermögen aus Diebstahl an Volkseigentum. Es war Osims Schicksal, dass er unter der Großmannssucht eines österreichischen Pülchers zu leiden hatte, des Grazer Werbemanns Hannes Kartnig, dessen Hauptverdienst als Sturmpräsident darin bestand, Osim geholt zu haben. Dieser führte den Verein erstmals zur österreichischen Meisterschaft und brachte ihn in der Champions League weiter als alle anderen österreichischen Vereine, das reiche Red Bull Salzburg inklusive. Kartnigs Versuche, mit Profis zu spekulieren, gingen schief und schwächten Osims Siegertruppe, worauf dieser Sturm verließ. Später ging er nach Japan, wurde er mit JEF United japanischer Meister und danach japanischer Nationaltrainer. „Strauß“ nannte man ihn als Spieler, wegen seiner Leichtfüßigkeit und Eleganz. Wussten die Mitspieler nicht, wohin mit dem Ball, rief das Publikum, „gebt ihn Strauß!“, und alles wurde gut. Solch Märchenhaftes umgab Osim, Gedankenschwere, kluge Eleganz und eine leichte Resignation angesichts der unaufhaltsamen Bergabfahrt in den allumfassenden Kommerz, auf die sich die postjugoslawische Menschheit begeben hatte. Alle sagten ihm nun nur Schönes nach, das ist selten. Am schönsten vielleicht das Abschiedswort des Zeugwarts von Sturm, Simo Maric: „Ivan war Vater und Freund zugleich, er war ganz besonders. Leider gehört das Sterben zum Leben dazu.“ Osim spielte sechzehnmal in der jugoslawischen Nationalmannschaft und schoss acht Tore, später spielte er als Profi in Frankreich, unter anderem bei Racing Strasbourg. Er war auch symbolträchtigerweise der letzte Trainer der jugoslawischen Nationalmannschaft. Und er schenkte dem Fußball, nicht nur dem österreichischen, einige seiner besten Momente. Friede seiner Asche.


Am Samstag war ich in Innsbruck und hielt auf der von Egon Leitner inspirierten und vom Innsbrucker Bischof Hermann Glettler abgehaltenen Tagung „Wie geht’s jetzt weiter? Mit (Sozial-)Staat, Arbeit, Wirtschaft und Seele“ eine Rede. Ich war mit der Rede nicht zufrieden. Meine Frau tadelte sie als viel zu abstrakt; vielleicht weil ich versucht hatte, sie im Venedig-Urlaub zusammenzustoppeln und weil mir beim Thema „Die Zerstörung der Demokratie und die Medien“ einfach zu viel in den Kopf kommt. Es ging ja vor allem darum, wie man die Welt verbessern könnte. Nach Corona und im Krieg sieht es nämlich für die Armen schlechter aus als vorher, das geht schon in den Mittelstand hinein, und zwar wesentlich schlechter, wie anhand sozialer Daten und Berichte von Caritas und Arbeitsmarktservice, von Armutsforschern und Ökonomen nachgewiesen wurde. Die Idee eines Schulfachs „Helfen“ scheint der Caritas so vielversprechend, das sie sich dafür einsetzen will. Die Vertreterin des Arbeitsmarktservice sprach davon, dass Therapieangebote die Vermittlungsangebote ergänzen sollten, und diese beiden Vorschläge scheinen mir wirklich sehr bedenkenswert. Dazwischen gab es Lesungen von Egon Christian Leitner, der seine Mischung aus Insistenz und Empathie auf ganz besondere Weise literarisch auszudrücken weiß. Die Tagung war nicht schlecht besucht (es waren bis zu hundert Personen im Raum); aber, wie ich zu Markus Marterbauer sagte, den ich beim Hingehen traf: Wir sind halt nicht so berühmt wie der Klenk, sonst würden sie draußen anstehen. Marterbauer schreibt gerade mit dem Volkswirt und Vermögensforscher Martin Schürz ein Buch, und er machte im Vorgriff darauf einen interessanten Vorschlag: lasst uns doch über eine Reichtumsgrenze diskutieren! Wo soll Schluss sein mit dem Anhäufen von Geld? Bei einer Milliarde Euro, bei zehn? Oder schon bei einer halben? Was mir gut gefiel: der veranstaltende Bischof begrüßte nicht nur, um sich anschließend zu verdrücken. Er blieb im Saal und hörte sich alle Reden und Debatten an, satte sieben Stunden lang.


Eine Verwandte erzählte mir, sie sei kürzlich an der Kassa eines Supermarkts hinter einer alten Frau gestanden, in deren Wagen sich nichts als ein paar Dosen Katzennahrung Brot und Salat befanden. Die alte Frau habe in ihrer Geldtasche gekramt und, kurzsichtig wie sie war, die Kassiererin gefragt, ob es wohl reiche. Nein, sagte die Kassiererin, leider nicht. Worauf die Frau Brot und Salat zurücklegen wollte. Was die Verwandte, selbst keineswegs wohlhabend, verhinderte, indem sie die Rechnung übernahm. Die Zeiten werden härter.


Ich musste diese beiden Berichte einschieben, obwohl ich vorhatte, heute einen Beitrag von Doron Rabinovici zu bringen. Wie es der Zufall wollte, war in Innsbruck auch Andreas Maislinger, der Proponent der Proteste gegen die Verwandlung des Braunauer Hitlerhauses in eine Polizeistation. Er sprach mich natürlich auf sein Projekt an, dessen Befürworter Heribert Prantl ich kürzlich hier zustimmend zitiert hatte. Ich sagte Maislinger, dass Doron ganz anderer Meinung sei und mir diesbezüglich etwas geschrieben habe, das ich demnächst bringen werde. Darüber, ich gestehe es, freute sich Maislinger nicht, aber ich bringe es trotzdem, morgen, zumindest habe ich das vor. Vielleicht wird ja eine kleine Debatte daraus.


Distance, hands, masks, be considerate! Ihr Armin Thurnher

Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:

Weitere Ausgaben:
Alle Ausgaben der Seuchenkolumne finden Sie in der Übersicht.

12 Wochen FALTER um 2,50 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!