Aufgrund Österreichs real schlampiger Verfassung haben wir aktuell die höchsten Covid-Todeszahlen der Welt

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 717

Armin Thurnher
am 30.04.2022

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Es ist natürlich nicht wahr, dass wir aktuell die höchsten Todeszahlen haben. Wir gehen nur schlampig mit ihrer Erfassung und Meldung um. Für begriffsstutzige Konsumentinnen und Konsumenten und für manche Ämter zeichnet Epidemiologe Robert Zangerle hier noch einmal genau nach, wie das ist, oder besser sein sollte, wenn man einen Covid-Todesfall und seine Ursache meldet. A. T.

»Wenn man sich derzeit zur Pandemie über die meist besuchten Webseiten informieren will, kommt man aus dem Staunen nicht mehr hinaus, weil die Erfassung der Todesfälle in geradezu absurder Manier dargestellt wird. Das ist auf der Webseite von Our World in Data und auf vielen akademischen Webseiten, wie die der Johns Hopkins University  oder die des Schweizer Data Science Center oder auf der Website der ETH Zürich der Fall: Österreichs aktuelle Covid-Todesfälle sind die höchsten der Welt. Weil die Nachmeldungen von Todesfällen über das Gesundheitsministerium offensichtlich verhunzt in die Daten eingespeist wurden. Vor drei Tagen habe ich verärgert dem Gesundheitsministerium unterstellt, „Flooding the Zone with Shit“ zu betreiben. Mit einem solchen Attribut habe ich zwar noch nie etwas in meinem Leben charakterisiert, weshalb eigentlich eine Entschuldigung meinerseits angebracht wäre.

Diese vielen Nachmeldungen der Todesfälle haben die Konfusion von Tag zu Tag eher vergrößert, sodass inzwischen die Mentalität „Pandemie-Vorbei-Also-Eh-Schon-Alles-Wurscht“ vorherrscht. Dass es keine Aufklärung durch das Ministerium gab, untermauert meine These, dass dieses den Diskurs ins Lächerliche ziehen will, letztlich einen inhaltvollen Diskurs damit zerstören, so nach dem Motto, passiert doch überall und ist somit das Normalste auf der Welt. Indirekt wird einem die Botschaft vermittelt, man sollte dieses Starren auf Zahlen doch bleiben lassen. Auch die Opposition (die Gesundheitssprecher von NEOS und SPÖ haben mit nichtssagenden Plattitüden geglänzt) und die Medien haben alles andere als die Sachlage aufgehellt, sondern irgendwelche Säue durchs Dorf getrieben. Hier ein Versuch der Seuchenkolumne, die Aufhellung nachzuholen.

Beginnen wir mit einer aktuellen Darstellung der täglichen Todesfälle (7-Tage Durchschnitt) durch Our World in Data, wo die absurde (und natürlich falsche!) hohe Sterblichkeit Österreichs ins Auge sticht. Dabei haben die für diese krassen Auslenkungen zugrunde liegenden Zahlen nur etwa die Hälfte der Nachmeldungen berücksichtigt (sorry für die unangebrachte Verstärkung der Konfusion, Aufklärung weiter unten), sonst hätte Österreich eine Sterblichkeit wie sie in der ganzen Pandemie von keinem Land je erreicht wurde. Es ist nur die Hälfte, weil ein paar Bundesländer dem Gesundheitsministerium nicht erlauben, die Zahlen zu harmonisieren. Der Gesundheitsminister betont ja immer wieder die Existenz der „Realverfassung“.

Um die Erfassung von Todesfällen und Todesursachen näher zu erläutern, sei ein Rückblick auf das Frühjahr 2020 erlaubt. In Österreich wurde (mehr als anderswo) nämlich von Anbeginn an der Tod durch Covid relativiert, durch falsche Gewichtung der Diskussion ob jemand AN oder MIT Corona gestorben sei. Die Beurteilung von Todesursachen ist mein Spezialgebiet, deshalb war ich der Meinung, es könnte nützlich sein, sich da einzumischen. Also schrieb ich Mitte April eine schnippische Mail an die Mitglieder der Task Force des Gesundheitsministeriums über die gleichzeitige Verwendung unterschiedlicher Todesfallzahlen auf zwei ihrer Webseiten (einmal die AN Corona Verstorbenen und einmal die AN und MIT zusammen gezählt). Die Mail endete mit „Kann man mit solchem unanständigen Unsinn aufhören und den Regeln der Epidemiologie folgen?“ Daraufhin gab es ein paar Antworten, unter anderem auch aus dem Kabinett von Bundesminister Rudolf Anschober. Dem antwortete ich am 17. April 2020 (bis auf die Anonymisierung, im Original):

„Sehr geehrter Herr XY!

Danke für Ihre prompte Antwort! Und für Ihr Verständnis meiner Kritik gegenüber, allerdings blieb der, zugegebenermaßen versteckte, Inhalt meiner Kritik unbeantwortet. Deshalb möchte ich diesen Inhalt, durchaus sehr verkürzt, beleuchten.

I      Wissenschaftlich wird bei Todesursachen prinzipiell zwischen immediate cause, underlying condition (condition that initiated the train of morbid events) und contributing cause unterschieden. Belastbare Daten zu Todesursachen in größerem Maßstab gibt es im Wesentlichen nur für underlying condition (entspricht etwa dem bei uns gebräuchlichen Begriff Grundleiden). Aber selbst die Bestimmung des „Grundleidens“ ist bei einigen Erkrankungen und  Bevölkerungsgruppen ein schwieriges Unterfangen, in Einzelfällen schier unlösbar, weshalb in der klinischen Epidemiologie die all-cause-mortality immer eine zentrale Rolle spielt, besonders bei Krankheitsausbrüchen oder gar neuen Erkrankungen.

Eine disease-specific mortality muss für Covid-19 aus wissenschaftlicher Sicht derzeit unvollständig bleiben, weil viele pathophysiologischen Zusammenhänge dieser Erkrankung noch nicht oder unzureichend erforscht sind.  Als ein Beispiel kann hier die myokardiale (Anm. Herzmuskel) Beteiligung bei Covid-19 dienen, wo nicht nur eine Covid-19 bedingte Verschlechterung einer vorbestehenden kardialen Erkrankung  zutreffen kann, sondern selbst eine Verwechslung eines klassischen Myokardinfarktes mit Covid-19 zu bedenken ist.

II    Surveillance: „Jede verstorbene Person, die zuvor COVID-positiv getestet wurde, wird in der Statistik als „COVID-Tote/r“ geführt“, steht in der Fußnote hier. Das entspricht der all-cause-mortality und ist selbstredend korrekt – auch wenn das immer wieder als unrichtig oder irreführend insinuiert wird! Aus Sicht der Surveillance gibt es, jetzt und in den nächsten Monaten, keinen Grund eine Surveillance für Disease-Specific-Mortality einzuführen. Und ganz abwegig ist eine solche Disease-Specific-Mortality Surveillance bei Covid-19 in den Händen der Bezirksverwaltungsbehörden. Dazu müsste es ausgefeilte Definitionen und Protokolle zu den Todesursachen bei Covid-19 geben, was (siehe oben) schlicht unmöglich ist. Auch ein Bezug auf  ECDC (von hier) hilft nicht weiter, ECDC will fatal outcome erfasst wissen.

„Mortality surveillance. While the surveillance of fatal outcome among hospitalised confirmed COVID-19 cases remains important and will be relatively feasible, it may not reflect the true magnitude of COVID-19-related mortality in a population. Elderly people may die outside of hospital settings, e.g. in long-term care facilities (LTCF), as already observed in a number of Member States.“

Sterbefälle bei Bewohnern von Pflegeheimen mit Symptomen einer Covid-19 Erkrankung aber ohne bestätigten Nachweis von SARS-CoV-2, die aber in unmittelbarer Nachbarschaft zu bestätigten Covid-19 Erkrankten lebten, könnten mit mehr Recht in eine Surveillance aufgenommen werden, als die wissenschaftlich unhaltbare Erfassung der „an Covid-19 Verstorbenen“ (siehe Bild unten) durch die Bezirksverwaltungsbehörden. Das machen zum Beispiel andere Länder.

ECDC und die Johns Hopkins Covid-19 Dashboard (zeigen am 17.4. vormittags die gestern hier registrierten 410 Fälle.  Also das funktioniert wie gewohnt weiter.

III   Menschenwürde. Als die ersten Todesfälle bei Patienten mit Covid-19 in Österreich auftraten keimten sofort Diskussionen auf, die entweder die Todesursache in Frage stellten oder die „Vorerkrankungen“ überbetonend in den Vordergrund rückten. Besonders erinnern kann ich mich an jene 48-jährige Wienerin, die „überraschend schnell“ zuhause verstarb, hier war es immerhin so, dass die Patientin obduziert wurde und der Tod offensichtlich klar in Zusammenhang mit Covid-19 stand. Später war dann plötzlich zu erfahren, dass es hier eine schwerwiegende Vorerkrankung vorlag, aber jede Erklärung, wieso die Patientin nicht in einem Krankenhaus versorgt werden konnte, fehlte. Es waren dann noch ähnliche Fälle in anderen Bundesländer. Besonders in Erinnerung blieb mir ein älterer aber nicht betagter, Mann aus St. Anton, der ebenfalls zuhause verstarb. Anstatt Versorgungsaspekte zu beleuchten, wurde berichtet, dass die Todesursache erst geklärt werden müsste.

Auch in der Beschreibung hier wird die „Mit-und-an verstorben“ Diskussion unnötig breit getreten. „Jede verstorbene Person, die zuvor COVID-positiv getestet wurde, wird in der Statistik als „COVID-Tote/r“ geführt, unabhängig davon, ob sie direkt an den Folgen der Viruserkrankung selbst oder „mit dem Virus“ (an einer potentiell anderen Todesursache) verstorben ist.“

In diesem Sinne hoffe ich, Ihnen das Alleinstellungsmerkmal der All-Cause-Mortality bei Covid-19 hinreichend dargetan, und auch Sensibilität den Verstorbenen gegenüber geweckt zu haben.

Mit freundlichen Grüßen

Robert Zangerle“

ENDE MEINER DAMALIGEN ANTWORT

Darauf kam natürlich keine Antwort mehr. Im August 2020 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zuletzt einen COVID-19-Todesfall für Erfassungszwecke (Surveillance) als Tod infolge einer klinisch kompatiblen Krankheit in einem (wahrscheinlichen oder) bestätigten COVID-19-Fall definiert. Es sei denn, es gibt eine eindeutige alternative Todesursache, die nicht mit der COVID-19-Erkrankung in Verbindung gebracht werden kann (z. B. Trauma, Autounfall, Mord). Zwischen Krankheit und Tod darf keine Zeit der vollständigen Genesung liegen. Das European Center for Disease Prevention and Control (ECDC) ergänzt das noch durch den Zusatz „Ein Todesfall aufgrund von COVID-19 darf nicht auf eine andere Krankheit (z. B. Krebs) zurückgeführt werden und sollte unabhängig von Vorerkrankungen gezählt werden, die im Verdacht stehen, einen schweren Verlauf von COVID-19 auszulösen“  . WHO und ECD sind für Österreich normierend, Abweichungen davon müssten besonders begründet und vor allem kommuniziert werden.

Covid-Todesfälle und deren Erfassung sind längst definiert, also ging es bei den Nachmeldungen um etwas anderes als deren Umsetzung. Um was genau? Um einen Abgleich zwischen dem nationalen Sterberegister (Statistik Austria) und dem Epidemiologischen Meldesystem (EMS). Für die Auswertung der Todesursachen ist die Statistik Austria zuständig. Die Statistik Austria wertet dazu die Totenscheine aus, die von Ärztinnen und Ärzten nach der Totenbeschau ausgestellt werden. Wobei allgemein für die Todesursachen das Grundleiden (siehe oben) herangezogen wird, das unmittelbar zum Tod führte, etwa Krebs, Herzinfarkt – oder Covid-19. All diese Diagnosen können auch nur als Begleiterkrankung vorliegen. In der Realität ist die Abgrenzung gerade auch bei hochbetagten, multimorbiden Personen oft schwierig. In das Epidemiologische Meldesystem, kurz EMS, müssen grundsätzlich sämtliche Covid Todesfälle nach WHO und ECDC Definition eingetragen werden. Das ist sogar gesetzlich vorgeschrieben.

Bei einem Abgleich zwischen Statistik Austria und EMS kommt auf einmal der Abstand zwischen Diagnose der Infektion mit SARS-CoV-2 und dem Tod wieder ins Spiel, obwohl der nach der WHO Definition ganz streng genommen im August 2020 wieder entfernt wurde, solange „no period of complete recovery between the illness and death“ vorgekommen ist. Für einen Abgleich zwischen Sterberegister und Surveilllance Tools ist es international üblich, mit einem Zeitfenster von 28-30 Tagen zu arbeiten, ansonsten wäre man auf die Diagnose der Totenbeschauer angewiesen, die doch in vielen Fällen bei Personen mit komplexen Erkrankungen und/oder multimorbiden Betagten immer wieder problematisch ist, allein weil immediate cause und underlying cause vermischt werden oder per se schwierig auseinanderzuhalten sind.

Das, was also jetzt mit diesem Abgleich passiert ist, ist zuerst ein ganz normaler Vorgang. Aber es gibt ein paar ganz wichtige Fragen:

  1. Wurde beim Abgleich eine zeitliche Grenze zwischen Diagnose der SARS-CoV-2 Infektion und dem Tod gesetzt und falls Ja (anzunehmen), wie groß ist das Intervall in Tagen?

  2. Wieso erfasste das EMS so viele Todesfälle nicht?

  3. Warum gibt es immer noch zwei Datenquellen zu Todesfällen?

Die erste Frage blieb auch bei Nachfrage an Verantwortliche unbeantwortet. Fangen wir beim letzten Punkt an. Da gibt es einerseits die zumindest für mich mysteriöse „Morgenmeldung“. Dort heißt es, dass „als Ergänzung zu den von der AGES bereitgestellten Tabellen werden die „Morgenmeldungen“ aus EMS und den Bundesländermeldungen an den nationalen Krisenstab in zwei Tabellen veröffentlicht“. Die Datei der „Morgenmeldung“ beginnt bei den summierten Todesfällen vom 1. März, während die Datei der AGES den ersten Eintrag am 26. Februar 2020 aufweist. Interessant ist, dass für den 1. März 2021 zwischen diesen Systemen gleich einmal ein Unterschied von fast 2000 Todesfällen auffällt (siehe Tabelle). Weiter fällt auf, dass die Nachmeldungen am 21. und 22. April 2022 in die Morgenmeldung vorgenommen wurden. Da dieses System mit dem Meldedatum arbeitet, wurden die Todesfälle „hinten“ einfach dazu gezählt. Am 27. April 2022 liegt der Unterschied der beiden Systeme bei 1416 Todesfällen. Die Johns Hopkins University, die zentrale Sammelstelle aller Coviddaten, von der aus die Daten weltweit verteilt werden bezieht ihre Daten von der Morgenmeldung. Die Meldung an die europäische Behörde ECDC in Stockholm erfolgt mit dem Datensatz von der AGES.

Die brennendste Frage für mich: Wieso wird auf diese sinnlose „Morgenmeldung“ nicht einfach verzichtet? Brächte keinen Schaden, nur Nutzen. Mir waren die Zahlen der „Morgenmeldung“ seit je nicht geheuer, sie basieren auf dem Meldedatum und nicht auf den Ereignisdaten (Probengewinnnung bei der Diagnose der Infektion mit SARS-CoV-2 und Todesdatum) wie bei den Daten der AGES. D.h. wenn etwas Gröberes zu korrigieren war und das passierte in Österreich nicht so selten („unverhofft kommt oft“), half das typische Glätten mit dem 7- Tageschnitt nicht. Deshalb arbeitete die Seuchenkolumne fast ausschließlich mit den Daten der AGES.

Wieso gibt es eine Differenz der Todesfälle von etwa 1400 zwischen der „Morgenmeldung“ und den AGES Daten? Wenn man sich die einzelnen Bundesländer anschaut, treten Unterschiede zu Tage, die unerklärlich sind. Die Zahl der Todesfälle aus Kärnten, Steiermark, Salzburg und Wien ist in beiden Datenbanken annähernd identisch (siehe Tabelle), weicht aber bei den anderen Bundesländern beträchtlich ab, ganz enorm in Tirol (30%). Zur Wiederholung: 1327 Todesfälle aus Tirol werden dem ECDC in Stockholm gemeldet, aber intern gibt man sich mit 930 zufrieden (für Österreich sind diese Zahlen nicht beglaubigt). Man wird den Eindruck nicht los, dass irgendjemand in Tirol doch nicht alles richtig gemacht hat.

Wieso erfasste das EMS so viele Todesfälle nicht? Aufgrund der Schilderungen vom Frühjahr 2020 kann nachvollzogen werden, dass die Bezirksverwaltungsbehörden und die Magistrate/Verwaltungen der Statutarstädte vor lauter Zuordnung, ob jemand AN oder MIT Corona gestorben ist, vielleicht überhaupt nicht zuordnen. Fairerweise muss aber ergänzt werden, dass ihnen manch Bürgermeister im Nacken saß, der nicht verstehen wollte oder konnte, dass Corona in seinem Heim gefunden wurde. Vielleicht auch Bürgermeisterinnen. Tatsächlich war es auch in diesem Ausmaß eine völlig neue Aufgabe, das Schicksal von Betroffenen zu verfolgen. Sie könnten unerreichbar sein, weil Wohnadresse nicht ganz korrekt angegeben oder weil man zwischen zeitlich zu Freunden oder Verwandten gezogen ist, sodass die Bezirksverwaltungsbehörden Todesfälle nicht erfassen, weil eine Kenntnis davon im normalem Arbeitsalltag nicht so selten nicht gelingen kann.

Interessant, was dazu aus Tirol berichtet wird: „Laut Elmar Rizzoli, dem Leiter des Corona-Einsatzstabes (Anm. in Tirol), habe es schon in der Vergangenheit unterschiedliche Zählstrategien gegeben. „Man unterscheidet ja zwischen ‚verstorben an Corona‘ und ‚verstorben mit Corona‘. Bei uns ist immer so gezählt worden, dass die Coronaerkrankung im Zuge der Totenbeschau als todesursächlich ausgewiesen worden ist“, so Rizzoli.“ So allen Vereinbarungen national und international zu trotzen, wären allemal ein Grund für disziplinarrechtliche Konsequenzen, Nachschulung (vermutlich Einschulung) das mindeste. Da würde er auch erfahren, dass das Gesundheitsministerium auf Bitte der AGES ab Anfang August künftig nur noch die Zahl der gemeldeten Todesfälle ausweisen wird. Das bedeutet, dass alle Patienten die an und mit dem Coronavirus gestorben sind, angegeben werden. Für Franz Allerberger (damaliger Leiter der Abteilung Öffentliche Gesundheit) sei es auch sinnvoll, dass man nicht zwischen an und mit Corona verstorben unterscheidet: „Das schlimmste ist, wenn im Raum steht, dass irgendwo ein Todesfall unter den Tisch gekehrt wird“. Das unterschreibe ich.

Deshalb war ein Abgleich mit dem Sterberegister immer unverzichtbar, man wunderte sich jetzt nur, wieso das für das Jahr 2020 nicht schon vor einem Jahr passierte. Fehlendes Problembewusstsein, Datenschutzprobleme, die bei gutem Willen nicht so schwer zu lösen wären, aber nicht angegangen wurden, oder gab es Druck, die Größenordnung zu relativieren? Und deshalb zuzuwarten bis „die Pandemie vorbei“ ist? Die Nachmeldungen waren für 2021 relativ und absolut größer als für 2020. Man kann annehmen, dass dies für 2022 genauso zutrifft, Österreich also schon mehr als 20 000 Covid Todesfälle hat. Das wird die Aufarbeitung der Pandemie nicht erleichtern. Zu Tirol ist genug gesagt, aber auch die Behörden in Burgenland und Kärnten haben 2021 ordentlich nicht erfasst. Auffällig Wiens sogar merklich bessere Erfassung 2021, ich vermute, dass die anfänglich politisch-kindische Trotzhaltung (den „Bund anbrunzen“) ins EMS nicht vereinbarungsgemäß und nicht dem gesetzlichem Auftrag gemäß einzugeben, aufgegeben wurde.

Die Nachmeldungen der Todesfälle bestätigen auch einen Verdacht, den ich am 8. Jänner in der Seuchenkolumne äußerte, dass nämlich die Übersterblichkeit  im Herbst 2021 doch fast nur auf Covid zurückzuführen ist. Laut einem Policy Brief vom 3. Jänner des Complexity Science Hub Vienna der Medizinischen Universität zu Strategien für Omikron könnte eine erhöhte Übersterblichkeit seit Oktober (3200 Todesfälle), die nach Abzug von 2000 Covid Todesfällen immer noch 1200 Todesfälle ausweist, die Folge eines über längere Zeit heruntergefahrenen Medizinsystems gewesen sein.

Die Seuchenkolumne will alles andere als die Schäden eines heruntergefahrenen medizinischen Systems kleinreden, viel mehr wurde hier mehrfach im Sommer 2020 und im Sommer 2021 davor gewarnt. Im August 2020 wurde sogar vorgeschlagen, dass in einer Ampel Indikatoren unabhängig von Covid Indikatoren zu berücksichtigen sind, wie z.B. OP-Frequenz und Koloskopie (Krankenhäuser und niedergelassener Bereich). Australien und Neuseeland haben keine kumulative Übersterblichkeit, sondern kumulative Untersterblichkeit. Trotz oder wegen rigoroser Maßnahmen? Das gilt trotz leichter Übersterblichkeit in der Omikron Welle.

Public Health Experten aus Neuseeland berichteten im Herbst 2020 über weniger Todesfälle im Lockdown und vermuteten, dass weniger Verkehrsunfälle, weniger berufsbedingte Unfälle, geringere Luftverschmutzung und postoperative Komplikationen dabei eine Rolle bei der Verringerung der Gesamtmortalität gespielt haben könnten. Nachteilige Auswirkungen auf die Sterblichkeit, die aus einem eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung resultieren, waren nicht erkennbar. In Österreich gibt es dazu immer nur eine Erzählung: „Verlust an gesunden Lebensjahren aufgrund der durch den Lockdown stattgefundenen Unter- und Fehlversorgung von anderen akuten und chronischen Erkrankungen“. Die jetzigen Nachmeldungen sprechen gegen diese Erzählung.

Dieselben neuseeländische Wissenschaftler haben sich auch andere Länder während der „1. Welle“ angeschaut und gefunden, dass in Ländern mit hoher Covid Sterblichkeit (Italien, Frankreich, Spanien, Großbritannien u.v.a.) ein Anstieg der Gesamtmortalität der Sterblichkeit an Covid vorausging und in solchen Ländern deshalb die Zahl der Covid Todesfälle unterschätzt wird. Für die „1. Welle“ traf dies z.B. für Österreich nicht zu, aber für die Wellen im Herbst 2020 und 2021.

Zur Beurteilung der Todesursachen bei Personen mit Covid wurden hier immer wieder Studien vorgestellt, die durchwegs zeigten, dass in 80-90% der Fälle die Todesursache Covid im Sinne des Grundleidens (condition that initiated the train of morbid events) war.

Solche Beurteilungen hängen immer von vielen Umständen ab. Einen der Umstände konnte man in Dänemark beobachten. Dort hat der Anteil an Todesfällen mit Covid während der sehr starken Verbreitung von Omikron zugenommen, er scheint zuletzt aber wieder abzunehmen.

Folgen der Beurteilung nach AN oder MIT zeigt eine sehr große Studie des deutschen Covid-Obduktionsregisters. Wenn die Definition COVID-Todesursache auf Lungenversagen eingeschränkt wird, dann hätten nur 52,5 % eine solche Definition erfüllt, wären also an Covid gestorben. Da aber auch Todesfälle aufgrund von Covid-Nachfolgeereignissen, wie z. B. einem Multiorganversagen herangezogen wurden, fand man bei 86,2 % der Obduktionen Covid als Grundleiden, während bei 14% Covid eine Begleiterkrankung war. Hätte man in dieser Studie Covid auch als Grundleiden (underlying condition) bei akuten kardiovaskulären Todesfällen (z.B. Herzinfarkt, Schlaganfall) berücksichtigt, so hätte Covid mehr als 90 % der Todesfälle an Covid erklärt. Dies wird jedoch derzeit in den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation zur Zertifizierung und Klassifizierung (Codierung) von COVID-19 als Todesursache nicht empfohlen.

Zum Abschluss sollte betont werden, dass epidemiologische Erfassung (Surveillance), Todesursachen für die Bevölkerungsstatistik (Statistik Austria) und wissenschaftliche Ergründung, wie Covid zum Tod führen kann, auseinander zu halten sind. Gerade bei der wissenschaftlichen Ergründung gibt es noch viel zu lernen.

P.S.: Falls es untergegangen sein sollte: die „Morgenmeldung“ des Gesundheitsministeriums gehört ersatzlos und umgehend gestrichen.« R. Z.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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