Corona in China: warum die Probleme mit der Null-Covid-Politik auch uns angehen

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 712

Armin Thurnher
am 25.04.2022

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Was ist in China los? Epidemiologe Robert Zangerle bietet einen Überblick über die Probleme der chinesischen Regierung im Umgang mit dem Corona-Virus, erklärt, warum die Strategie dennoch weitgehend erfolgreich war, wo und warum etwas vertuscht wird, und warum die Welt am Ende doch froh sein kann, dass das Regime des bevölkerungsreichsten Staates der Erde so hart reagiert. A. T.

»„Seefracht hängt auf den Weltmeeren fest: Wegen rigoroser Lockdowns in China stehen die Häfen, allen voran Shanghai, de facto still. Das bringt die Lieferketten weltweit ins Wanken. Auch aufgrund des Ukraine-Krieges müssen Logistiker nun kreativ werden“, so lautete die Schlagzeile in der Wiener Zeitung vom 8. April. Das war doch zu erwarten. Vor vier Monaten wurde hier schon betont, „ nicht nur Christian Drosten sorgt sich um China, Omikron kommt auch dorthin, weshalb eine echte Gefahr für die Weltwirtschaft bestünde, hier und hier. In Shanghai wollte es China beim Kampf gegen das Corona Virus anders machen. Es galt ja das „dynamische Null Covid“, welches lokalen Behörden, insbesondere dem Finanz- und Wirtschaftszentrum Shanghai, Spielraum verschaffen sollte, Maßnahmen an die lokalen Bedingungen anzupassen, um willkürliche Abriegelungen zu vermeiden und unbefugte Schließung von Restaurants, Supermärkten, Touristenattraktionen und Kinos zu unterbinden.

Soeben hat das chinesische Landwirtschaftsministerium bekannt gegeben, dass Landwirte mit Covid in „kontrollierten“ (Guankong) Zonen, außerhalb der Stoßzeiten auf das Feld gehen dürfen. In Shanghai wurde Mitte März ein Lockdown zuerst nur für Häuserblocks, dann für Stadtviertel verhängt. Am 28. März wurde die halbe Stadt abgeriegelt, und schließlich wurde am 1. April der Lockdown auf ganz Shanghai ausgeweitet, 26 Millionen Menschen sind zum Teil über vier Wochen eingesperrt.

Positive Fälle werden in Quarantänezentren gebracht, bis sie negativ getestet werden, aber viele dieser Zentren sind schlecht ausgestattet und auch schlecht geführt. Die Toiletten sind ekelhaft, es gibt keine Duschmöglichkeiten, kein warmes Wasser, die Dächer undicht und eine Handvoll erschöpfter Ärzte und Krankenschwestern mit unzureichenden Mitteln stehen mehr oder weniger gesunden Patienten in rebellischer Stimmung gegenüber. Die Bedingungen in den Quarantänezentren haben die Shanghaier Mittelschicht schockiert, während die ärmere Bevölkerung die gesicherten drei Mahlzeiten zu schätzen begann, weil die Essenszustellung schnell teuer wurde. Die schiere Unmenschlichkeit einiger Maßnahmen, wie die Trennung von Kindern von ihren Eltern, wenn sie positiv auf das Virus getestet werden, löste einen Aufschrei aus und zwang die lokalen Behörden, einige der Beschränkungen wieder zu lockern. Es sollen auch mehrere Menschen gestorben sein, nachdem sie wegen der Einschränkungen keine dringende medizinische Hilfe erhalten konnten.

Während in Europa das Scheitern der chinesischen Null-Covid-Politik angeprangert wird und gleichzeitig fast unisono daraus resultierenden negativen Folgen für die europäische Wirtschaft beklagt werden, bleibt eine Beurteilung des Desasters und seiner Konsequenzen in Shanghai durch die chinesische Bevölkerung und die chinesische Regierung naturgemäß spekulativ. Allgemein wird es eher so gesehen, dass bei den nächsten Ausbrüchen wieder schneller und konsequenter gehandelt werden kann, also eine eingeschränkte „dynamische“ Null-Covid-Pandemiepolitik. Eine aggressive „Null-COVID“-Strategie hat China bisher bemerkenswert gute Dienste geleistet. Wo Maßnahmen verhängt wurden, fielen sie oft unerbittlich aus, betrafen aber stets nur einen kleinen Teil der 1,4 Milliarden Chinesen – und sie waren nach einigen Wochen wieder vorbei. Die große Mehrheit der Bevölkerung trug diesen Kurs mit.

China hat im ersten Quartal 2022 ein unerwartet starkes Wirtschaftswachstum von 4,8 Prozent erreicht. Die Angaben des Statistikamtes vom Montag in Peking liegen über den Vorhersagen der Experten, die nur mit etwas mehr als 4 Prozent gerechnet hatten. Ausbrüche an Infektionen in Xi’an im Dezember 2021, in Peking im Februar 2022 und in Shenzhen, das im Süden an die SonderverwaltungszoneHongkong grenzt, im März 2022, scheinen jeweils in wenigen Wochen unter Kontrolle gebracht worden zu sein. Der Aufwand, um das zu erreichen, wird jedoch immer größer. Es wird wahrscheinlich einen Punkt geben, an dem die Kosten von Null-Covid die Vorteile überwiegen. Kosten politischer Natur durchaus auch im Sinne einer zunehmenden Ablehnung der Regierungspolitik oder gar Rebellion dagegen. Die Debatte dreht sich darum, wann das sein wird. Und ob der 20. Parteitag im Oktober der November 2022 in diesem Abwägen von Kosten-Nutzen eine Rolle spielt, der von einem großen Personalwechsel wegen Erreichen der Altersgrenze geprägt sein wird. Xi wird mit ziemlicher Sicherheit eine dritte Amtszeit erhalten. Die Amtszeitbeschränkung wurde 2018 aufgehoben.

Der Lockdown in chinesischen Großstädten ist auch für viele ausländische Einwohner die erste persönliche Erfahrung mit der Kompromisslosigkeit eines autoritären Regimes. Viele Betroffene fühlen sich der Willkür des Staates hilflos ausgeliefert. Das Verhältnis des Landes zu demokratischen Staaten droht sich weiter zu verschlechtern. Der Lockdown in Shanghai bereiten dem Leiter der dortigen Gesundheitskommission wortwörtlich Kopfschmerzen, er wurde mit Migräne ins Krankenhaus eingeliefert. Selbst vor Haustieren macht der Lockdown keinen Halt (für etwa 40 Euro pro Nacht kann man sie abgeben).

Bis heute sind Omikron Ausbrüche in China noch längst nicht gänzlich unter Kontrolle, sodass eine Dämpfung der wirtschaftlichen Entwicklung in China mit schmerzhaften Folgen für die ganze Welt unverändert möglich ist. Demnach blieb das Seefrachtaufkommen im Hafen von Shanghai in der vergangenen Woche auf einem im Vergleich zum 12. März deutlich niedrigerem Niveau. Zugleich verzeichnete man zuletzt ein deutlich erhöhtes Seefrachtaufkommen in den Häfen von Shenzhen und Ningbo-Zhoushan, nachdem sich Shenzhen von den strikten Eindämmungsmaßnahmen erholt hatte und die Verlader ihre Waren wegen des Lockdowns in Shanghai umgeleitet hatten. Shanghai und Ningbo-Zhoushan belegen die Plätze 1 und 3 im Ranking der nach Umschlagvolumen größten Containerhäfen der Welt.

Das Eindringen der hochgradig übertragbaren Omikron-Variante in das Land lässt die sozialen und wirtschaftlichen Kosten der Null-COVID-Politik dermaßen steigen, dass sowohl die chinesische Führung als auch chinesische Wissenschaftler Optionen für eine Koexistenz mit dem Virus diskutieren, wie es inzwischen der Rest der Welt, inklusive asiatischer Staaten wie Taiwan, Südkorea, Vietnam, Australien und Neuseeland praktiziert. Einige denken, dass dieser Wandel schon im Mai 2022 beginnen könnte oder dass die Bewältigung der Covid-Krise in Hongkong abgewartet wird, während andere, wie Xi Chen, ein Wissenschaftler an der Yale School of Public Health, sagt, dass China mehr Zeit – bis zu einem Jahr – braucht, um einerseits die Durchimpfung insbesondere bei älteren Menschen weiter zu erhöhen und andererseits Gesundheitsversorgungskapazitäten zu stärken, insbesondere auf dem Land. Andere Schritte könnten auch sein, dass die Dauer der Isolation von Infizierten und die Quarantäne von Exponierten verkürzt werden, oder dass China zunächst eine Stadt oder Region als Testfall öffnen könnte. Hat China das jetzt mit Shanghai bereits versucht? Impfstoffe sind nicht so entscheidend für die Aufrechterhaltung von Null-COVID, aber wirklich entscheidend für den Ausstieg aus Null-Covid.

Es werden folgenschwere Entscheidungen sein. China wird dabei sicher vorsichtig vorgehen und wirklich mit allen Mitteln versuchen, Ausbrüche wie in Hongkong zu vermeiden. Die Folgen für Hongkong waren desaströs: es wies die höchste Todesrate auf, die weltweit in der ganzen Pandemie je verzeichnet wurde. Das chinesische Festland steht jetzt aber vor einer ähnlichen misslichen Lage, wenn die aktuellen Ausbrüche nicht unter Kontrolle gebracht werden

Chinas Gesamtimpfungsrate zwar liegt bei über 85 %. Dies wurde durch die Einführung eines digitalen Impfpasssystems erreicht – das für den Zutritt zu vielen öffentlichen Gebäuden und Arbeitsplätzen erforderlich ist – und eines farbcodierten „Gesundheitscodes“, der anzeigt, ob jemand ein Infektionsrisiko darstellt. Aber ältere Menschen besuchen Einrichtungen/Veranstaltungen, die einen Impfpass erfordern, in einem geringeren Ausmaß, sodass mehr als die Hälfte der über 70-Jährigen in Shanghai ungeimpft blieben. Es wird auch argumentiert, dass eine pure Null-Covid-Politik keinen Schwerpunkt auf Risikopopulationen legt (es gibt ja kein zirkulierendes SARS-CoV-2). Außerdem sind die Impfprogramme stark auf Arbeitgeber und Schulen ausgerichtet, vernachlässigen also die ältere Bevölkerung.

Aus Hongkong gibt es Studiendaten, warum ältere Personen sich nicht impfen lassen. Teilnehmer, die die COVID-19-Impfung verzögerten oder verweigerten, erhielten kaum Unterstützung durch Ärzte, Familie und die Verwaltung, um Einstellungen, wie eine negative Wahrnehmung des Alterns, Fatalismus gegenüber Risiken, geringe Gesundheitskompetenz („health literacy“), grundlegendes Misstrauen gegenüber der westlichen Medizin und ganz generell fehlende oder falsche Information zu Impfstoffen zu beeinflussen. Eine Stammtischumfrage zu Shanghai (n = 1) bei meinem Schrunser Cousin, er lebte 10 Jahre in Shanghai und baute für eine große Vorarlberger Firma das China Geschäft auf, scheint die Ergebnisse der Studie aus Hongkong zu bestätigen. Die ältere Bevölkerung ist sehr von Misstrauen gegenüber bürokratischen Verwaltungen, aber nicht weniger gegenüber Errungenschaften moderner westlicher Medizin geprägt. Da braucht es besondere Anstrengungen, diese Bevölkerungsteile für moderne Impfungen zu motivieren.

Ganz generell haben sich Länder mit einer Null-Covid-Politik schwer getan, ihre Bevölkerung ausreichend zu schützen. Angesichts des dystopischen Lockdowns in Shanghai fragt man sich, wieso „vulnerable“ Teile der Gesellschaft nicht einer Impfpflicht unterliegen – speziell in einem autoritären Staat wie China. Da müsste sowas doch leichter gehen, meint man. Die Unmöglichkeit, diese Frage zu beantworten zeigt aber, wie wenig wir China verstehen. Neuseeland hat zwischenzeitlich für mehrere Berufsgruppen eine Impfpflicht auferlegt; Neuseeland hatte aber immer eine Exit-Strategie aus Null Covid im Auge.

Es ist übrigens gar nicht so einfach, auf globalem Niveau Länder mit ihren jeweiligen Impfraten zu vergleichen. In Europa benötigt man mehrheitlich 2 Dosen, wobei Dosis 2 den Zyklus gemäß dem Protokoll abschließt und zu einer vollständigen Impfung führt (z.B. Moderna und Pfizer/BioNTech). Es gibt aber auch 1-Dosis-Protokolle wie Johnson & Johnson und, vielleicht weniger bekannt, CanSino aus China und Soberana Plus aus Kuba (wenn es als eigenständiger Impfstoff angewendet wird). Wir haben auch Impfstoffe mit 3-Dosen-Protokollen: Abdala aus Kuba, die Kombination aus Soberana 2 & Soberana Plus aus Kuba und ZF2001 aus China. Heute ein erster Schritt mit einem Vergleich eines Äquivalents von zwei Impfungen („double-dose equivalents“), eine Grafik von Philip Schellekens, langjähriger Berater der Weltbank. Übermorgen folgt die Darstellung eines Boosters.

Die Schutzwirkung chinesischer Totimpfstoffe ist geringer als die der mRNA-Impfstoffe von Pfizer/BioNTech und Moderna, daran gibt es keinen Zweifel. Laut einer Beobachtungsstudie in Malaysia schwand der Schutz vor schwerer Erkrankung nach der Impfung mit der Vakzine von Sinovac deutlich rascher als mit dem Wirkstoff von BioNTech/Pfizer. Das Gesundheitsministerium von Singapur berichtete ebenfalls über geringere Wirkung des Impfstoffs von Sinovac (CoronaVac) im Vergleich zu den Impfstoffen von Moderna und Pfizer/BioNTech.  Eine Auswertung aus Hongkong ergab, dass drei Monate nach der Impfung mit Sinovac kaum mehr neutralisierende Antikörper gegen Omikron im Blut zu finden sind.

BioNTtech schloss Mitte März 2020 zwei bahnbrechende Deals ab, die sicherstellen sollten, dass der ganze Planet mit dem neuen mRNA-Impfstoff des Mainzer Forschungsunternehmens versorgt werden könnte: mit dem amerikanischen Pharmariesen Pfizer und mit dem Shanghaier Biotech-Konzern Fosun, das ein Lieferabkommen über mindestens hundert Millionen Dosen vorsieht. Bis heute ist der BioNTech-Impfstoff in China formal nicht zugelassen, obwohl unklar bleibt, wie viele Chinesen zumindest in Studien damit geimpft wurden. Gar schon 100 Millionen? Dieser Geheimnistuerei wird die Spekulation entgegengesetzt, die Gründe für die Nichtzulassung lägen in Nationalstolz und dem Wunsch nach Revanche.

Wie bitte? Der chinesische Pharmakonzern Sinovac bemüht sich um eine Freigabe seines Totimpfstoffs CoronaVac in der EU und hat für einen Rolling Review eingereicht, aber noch nicht für eine Zulassung. Dass die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) auf einer vollständigen, unabhängigen wissenschaftlichen Überprüfung bestehen würde, sorgte in Peking für Irritationen. Damit ein Impfstoff eine EU-Zulassung erhalten kann, müssen die Produktionsstätten überprüft werden (ein Unterschied zur FDA, war schon ein Problem beim Impfstoff Sputnik von Gamaleya). EMA-Inspektoren hätten bereitgestanden, ein Sinovac-Werk in China zu zertifizieren. Doch die Behörden beharrten offenbar darauf, dass die Inspektoren sich nach ihrer Einreise für 21 Tage in Quarantäne begeben (paywall). Die EMA habe abgelehnt – auf Spezialisten für Impfstoffherstellung könne mitten in einer Pandemie nicht mehrere Wochen lang verzichtet werden. Im Gegenzug wurde in Peking die Zulassung vom Impfstoff von BioNTech/Fosun auf Eis gelegt, die für Juni 2021 erwartet wurde.

Wieso den mRNA Impfstoff von BioNTech/Fosun nicht als Booster nach Impfungen mit den chinesischen Totimpfstoffen? Offenbar scheiterte das bisher an einer mächtigen Allianz aus chinesischer Pharmalobby und Politik, die lieber rein chinesische mRNA Impfstoffe entwickeln wollte. Mehrere chinesische mRNA Kandidaten durchlaufen klinische Tests. ArcoV, ein Impfstoff der gemeinsam von der Akademie für Militärwissenschaften der Volksbefreiungsarmee sowie den beiden Pharmaunternehmen Suzhou Abogen Biosciences und Walvax Biotechnology entwickelt wurde, machte bereits im Juli 2020 große Hoffnungen. Trotzdem dauerte es 18 Monate, bis erste nur vorläufige Ergebnisse, weil Phase 1, publiziert wurden. Eine überraschende unerwünschte Nebenwirkung war eine niedrige Lymphozyten Zahl (die sich nach 4 Tagen wieder normalisieren soll). Eine niedrige Lymphozyten Zahl könnte ein erhebliches unerwünschtes Ereignis sein, insbesondere für Personen, die zum Zeitpunkt der Impfung unwissentlich mit SARS-CoV-2 infiziert sind.

Die chinesische Führung scheint nun doch noch den erprobten Impfstoff von BioNTech/Fosun in Betracht zu ziehen – wohl nicht zuletzt unter dem Eindruck des seit Wochen anhaltenden dystopischen Lockdowns der 26-Millionen-Metropole Shanghai. In den kommenden Wochen sind Gespräche mit chinesischen Vertretern angesetzt, offiziell äußert sich BioNTech dazu nicht.  An Impfstoff mangele es jedenfalls nicht, heißt es bei Biontech. Sobald Peking grünes Licht gebe, könnten genug Dosen geliefert werden, um ganz China zu versorgen.

Aber die Situation in Hongkong zeigt, warum in China noch einige Monate lang Vorsicht geboten ist. Nicht nur das zusammenbrechende Versorgungssystem und die vielen Toten, auch die lang anhaltenden einschneidenden Maßnahmen lassen befürchten, dass ein zu rasches und unüberlegtes Abrücken von einer Null-Covid-Politik in China nicht nur mit einer schier nicht zu bewältigenden Versorgung, sondern auch mit Millionen Toten einhergehen würde. Das ist in einem Land mit 1,4 Milliarden Menschen selbstredend, hätte nämlich ganz China eine Covid-Sterblichkeit wie Österreich, dann wären schon 3 Millionen Chinesen gestorben, es sind aber deutlich unter 100 000 (offiziell knapp 5 000).

Die Angaben zur Anzahl an Covid-Todesfällen in Shanghai sind wenig glaubwürdig (unter 400 000 Infektionen zwei Dutzend Todesfälle) und erinnern an die ersten Informationen vom ursprünglichen Ausbruch in Wuhan. Damals stimmten die kolportierten Zahlen zweifellos auch nicht. Die Art und Weise, wie in China Corona Virus-Fälle oft klassifiziert werden (wenn in der Lunge nichts gefunden wird, dann gilt der Fall als asymptomatisch) und wie Todesfälle gemeldet werden, verschleiert die Wahrheit.

Chinesische Krankenhäuser neigen dazu, sich auf chronische Krankheiten wie Krebs, Herzkrankheiten oder Diabetes als Todesursache zu konzentrieren, und Menschen mit solchen Erkrankungen wurden nicht in die offizielle Covid-Sterblichkeitsstatistik aufgenommen (Österreich leidet an der chinesischen Krankheit, diese Diagnose konnte letzte Woche bestätigt werden). Die Krankenhäuser in Shanghai tun dies nicht unbedingt absichtlich. China hatte von Anfang an diese Methode zur Erfassung von Todesfällen. Schon vor der Pandemie wurden in China im Vergleich zu westlichen Ländern normalerweise zu wenige Todesfälle durch saisonale Grippe gemeldet. Schwer zu sagen, ob dies eine absichtliche Vertuschung ist, es ist auch im Einklang mit Chinas engem Todesbescheinigungsverfahren für Infektionskrankheiten. Andererseits ist der Eindruck berechtigt, dass die chinesische Regierung mit Statistiken spielt, um zu zeigen, dass China besser als westliche Nationen mit Covid umgehen kann. Zweifel an den Todesdaten für die Omikron-Welle spiegelten ähnliche Bedenken beim Ausbruch von Wuhan 2019/2020 wider.

Forscher aus chinesischen Gesundheitsbehörden haben in einem Artikel im British Medical Journal eingeräumt, dass die tatsächlichen Covid-Todesfälle in Wuhan von Januar bis März 2020 um mindestens 16 Prozent höher waren als die offizielle Zahl. Analysen der Zeitschrift The Economist kamen zu dem Schluss, dass es in diesem Zeitraum 13.400 übermäßige Todesfälle („Übersterblichkeit“) in Wuhan gegeben hatte – mehr als dreimal so hoch wie die offizielle Zahl der Todesopfer bei Covid. China ist nicht das einzige Land, dem vorgeworfen wird, die Auswirkungen des Virus zu niedrig oder falsch gemeldet zu haben. Kommt einem irgendwie bekannt vor. Die Zahl der weltweit durch die Pandemie getöteten Menschen könnte dreimal so hoch sein wie die offiziellen Zahlen. In Indien wird die Zahl der Todesfälle nach einer Schätzung der WHO mindestens viermal höher als die offiziellen Zahlen geschätzt. Die indische Regierung hat die WHO gebeten, diese Schätzungen erst „10 Jahre später“ zu veröffentlichen. Die WHO ist nach ihren Satzungen aber verpflichtet, die Zahlen zu veröffentlichen.

Eine gute Gelegenheit, den ersten Virusnachweis zu erwähnen, der eindrucksvoll zeigt, wie wichtig die rasche Veröffentlichung von relevanten Daten ist: Die Information, dass es zu einem Ausbruch von einer bisher unbekannter Pneumonie kam, schlug Ende Dezember 2019 große Wellen. Der Virologe Yong-Zhen Zhang bekam ebenfalls Wind von diesem Ausbruch, weshalb er Kollegen im Zentralkrankenhaus von Wuhan bat, ihm Lungenflüssigkeit eines Patienten zu schicken. Es traf am 3. Januar ein, zwei Tage später hatte das Team von Yong-Zhen Zhang das Genom eines neuen Corona Virus entschlüsselt . Andere wissenschaftliche Teams in China hatten das Virus ebenfalls sequenziert, das erste Mal vermutlich am 26. Dezember. Aber keiner machte es öffentlich, weil die chinesische Regierung Wissenschaftler daran gehindert hatte, Informationen darüber zu veröffentlichen. Yong-Zhen Zhang begann mit dem Virologen Edward Holmes eine Abhandlung über das Genom der neuen Corona Virus zu schreiben, die ein paar Wochen später in der Zeitschrift Nature erscheinen sollte. Dr. Zhang missachtete das Verbot und lud das Virusgenom in eine öffentliche Datenbank hoch. Ohne diese frühe, öffentlich zugängliche Information wäre vor allem die Entwicklung der PCR-Diagnostik verzögert gewesen. Der Start der Entwicklung der Impfstoffe (mRNA, Vektor und Subunit) wäre etwa um einen Monat verzögert gewesen.

Zum Abschluss, noch einmal zurück zum Thema: Selbst wenn die Regierung in Peking die Null-Covid-Strategie aufgeben würde, könnten die Fallzahlen und Todesfälle so stark ansteigen, dass Lockdowns wieder nötig würden, um das Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu bewahren. Aber es gilt was gänzlich anderes zu beachten: Wenn SARS-CoV-2 in einer Bevölkerung von 1,4 Milliarden stark zirkuliert, dann bestünden besonders reichlich Gelegenheiten, dass sich neue Varianten entwickeln. Auch so gesehen ist die Null-Covid-Politik Chinas keine reine nationale Angelegenheit, sondern ein globales Problem. Dürfen Europa und Nordamerika also darauf hoffen, dass China seine Null Covid Politik fortführt?

Kuba hat keine Null-Covid-Politik betrieben, ist trotzdem, abgesehen von der recht schweren Deltawelle vom Juli bis Oktober 2021, recht gut durch die Pandemie gekommen, weshalb die Sterblichkeit pro Kopf der Bevölkerung über die ganze Epidemie hinweg doch nur ein Drittel jener von Österreich ausmacht. Das Besondere an Kuba ist jedoch, dass die Omikron Welle kaum zu Todesfällen geführt hat, ganz im Gegensatz zu Österreich. Mehr übermorgen.« R. Z.


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Ihr Armin Thurnher

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