Morgen ist europäischer Schicksalstag

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 710

Armin Thurnher
am 23.04.2022

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19 Parteien stellen sich in Slowenien etwa 2 Millionen Wählerinnen und Wählern

Morgen ist wieder einmal Sonntag der Wahrheit für Europa. Gewählt wird in Frankreich und Slowenien. Im kleinen Slowenien hat sich der einstige Linke (es ist Jahrzehnte her) Janez Janša zu einer Art Klein-Orbán entwickelt. Er regiert allerdings mit einer Koalition aus Mitte-Links-Parteien, deren Zustimmung er, der Rechtsnationalist, sich mit Posten erkauft hat. Seine Angriffe auf Medien, vor allem auf die staatliche Nachrichtenagentur und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und das Fernsehen sind durchaus Orbán-Style. Alenka Bratušek, ehemalige Ministerpräsidentin und gescheiterte Kandidatin als EU-Kommissarin, sagt über Slowenien unter Janša: „Die Rechtsstaatlichkeit liegt in Trümmern, die Verschuldung ist in die Höhe geschnellt, die Inflation gerät außer Kontrolle, das Gesundheitswesen ist ineffizient und korrupt, und wir können uns bei Lebensmitteln und Energie nicht selbst versorgen.“ Bratušek hofft wie viele andere auf den Quereinsteiger Rudolf Golob (55), einen ehemaligen Energiemanager, der als Ökoliberaler gilt. In Umfragen liegen er und Janša Kopf an Kopf bei je 25 Prozent; unsere Stammtischumfragen in Slowenien haben ergeben, dass Janša auf dem Land punktet, vor allem mit Geldgeschenken für Pensionisten und einer Obergrenze für den Spritpreis bei 1,50 € (gilt bis zur Wahl). In den Städten dürfte Golob vorne liegen.


Im Vergleich zur zweiten Wahl, zu der wir leider über keine Stammtischprognosen verfügen, ist Slowenien ähnlich bedeutungslos wie Österreich. In Frankreich aber entscheidet sich wieder einmal das Schicksal der EU. Gewinnt die Rechte Marine Le Pen, was nicht unmöglich scheint, dann bekommt das Europa der Vaterländer beinahe Übergewicht; Deutschland, Südwesteuropa und skandinavische Staaten gegen Polen, Ungarn, Frankreich – das ist für eine EU im Kriegsmodus keine gute Perspektive. Amtsinhaber Emmanuel Macron versucht zwar Le Pen als Putin-Freundin hinzustellen, was sie ja auch ist, aber sie leugnet den Vorwurf geschickt, so wie sie die rechtsradikale Praxis ihrer Partei insgesamt geschickt leugnet. Schon bei der ungarischen Wahl habe ich nicht verstanden, warum die Opposition nicht einfach im ganzen Land große Plakate mit Fotos von Orbán in Freundschaftspose mit Putin und dem schlichten Text „1956“ anschlug. Macron hat sich vor allem als Kapitalversteher hervorgetan und Rechte wie Linke gegen sich aufgebracht, sodass die 21.95 Prozent, die den Linken Jean-Luc Mélenchon wählten (23.15 Prozent wählten Le Pen), keineswegs automatisch ihm zuzurechnen sind; im Gegenteil, Mélenchon forderte sein Elektorat nur auf, nicht Le Pen zu wählen. Er hätte sich eher die Zunge abgebissen, als eine Wahlempfehlung für Macron abzugeben. Andererseits, rechnet man die Stimmen für Grüne, Kommunisten, trotzkistische Splitterparteien und die sozialdemokratische Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo (1,75% – ein historischer Tiefpunkt) zusammen, kommt man auf noch einmal 10 Prozent. Die können nicht alle Le Pen wählen. Wenn sie denn wählen gehen.


Wir sehen das mit der Gelassenheit eines Ländchens, das zu Europa so steht wie zu seinem eigenen Beitrag in Putins Krieg: wasch mir den Pelz undsoweiter. Wir nehmen die Vorteile, tun aber nichts, was uns eine glaubwürdige Position verleihen könnte. Zum Beispiel ein mutiges Konzept auf Teilverzichte an Energie, um effektive Sanktionen gegen Putin zu ermöglichen. Da können wir leider nichts machen, weil wir müssen es warm haben und unsere Profite dürfen bitte nicht durch teure Energie leiden, wo wir jetzt schon jedes Inserat versteuern sollen. Eine Nation ohne moralische Glaubwürdigkeit hat aber europapolitisch nichts zu reden. Dabei steht die EU am Wendepunkt. Der Krieg, was immer man von ihm hält, hat ein neues EU-Gefühl geweckt; aber es geht nicht nur um Gefühle, es geht um eine Vergemeinschaftung der Krisenschulden, eine gemeinsame Energiepolitik, eine Kriegspolitik, welche die Klimakrise nicht befördert. Es ist Schluss mit dem Merkel-Schäuble-Kurs; mit Olaf Scholz muss man über einen europäischen Keynesianismus reden können; der neue Digital Services Act gibt leisen Anlass zum Optimismus, dass die EU zumindest ansatzweise das Problem der Tech-Konzerne erkennt und sich nicht länger von ihnen als Steuerparadies wider willen über den Tisch ziehen lässt. Das Verhalten Putins hat gezeigt, dass wirtschaftliche Verflechtung allein nicht die friedliche Partnerschaft mit einem mächtigen Gegenüber garantiert; diese Lektion muss Europa lernen, mit Russland im Krieg, mit China, wo man sich ähnlichem Selbstbetrug hingibt, weil man für Handels- und Wirtschaftsvorteile keine demokratischen Gegenleistungen fordert. Und auch in den Beziehungen mit den USA. Denn Europa, wenn es existieren will, muss als Demokratie existieren, nicht als Oligarchenparadies, und es muss seine Macht dafür einsetzen, nicht die einzige Demokratie außer den USA zu sein (solang die noch eine sind). Das bedeutet auch, das allein dominierende Paradigma „Wirtschaft“ muss hinter jenes der Politik zurücktreten. Ein geeintes Europa demokratischer Staaten oder Zerfall in Nationalstaaten, die leichte Beute diverser Großmächte würde – das ist die Alternative, die sich derzeit in großen und in kleinen Wahlen stellt. Es wird Zeit, sie zu erkennen. Für Österreich wäre es Zeit, sich ihr gemäß zu verhalten. Bleiben wir optimistisch, dem Motto der Seuchenkolumne gemäß: Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben (Walter Benjamin).


Morgen gibt es ein venezianisches Bilderbuch von Irena Rosc, da wir noch immer das Privileg genießen, uns in dieser schönen Stadt aufzuhalten. Am Montag und Dienstag dürfen Sie mit einer Doppelkolumne der Epidemiologen Robert Zangerle zur Corona-Lage rechnen. Und am Mittwoch hält die Kolumne eine Überraschung für Sie bereit (nicht für mich, ich kenne sie schon). Am weiteren Horizont taucht eine Debatte über das Hitlerhaus auf, zu dessen geforderter Verwendung als Gedenkstätte es sehr kompetente Gegenmeinungen gibt. Stay tuned!


Distance, hands, masks, be considerate! Ihr Armin Thurnher

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