Die Doppelkrise, Europa und fünf Hoffnungen

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 701

Armin Thurnher
am 12.04.2022

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Nur eine Notiz zu Kanzler Nehammers Besuch in Moskau: nie so viel Medienlärm um etwas gehört und gesehen, bei dem der Lärm darin bestand, kundzumachen, dass der Lärm den Lärm nicht wert war. Nennt man Medienlogik.


Hoffnungen habe ich versprochen. Die Situation ist wirklich düster. Die Rechte hebt überall ihr Haupt. Megaschlaucherln wie der englische Premier Boris Johnson benützen die Ukraine-Krise nicht nur dazu, von eigenen Problemen abzulenken, sondern rasch ein paar neue Atomkraftwerke durchzuwinken. Grund: die britische Abhängigkeit von russischer Energie beträgt fünf (!) Prozent. Insgesamt bekommt die Energiepolitik durch Putins verbrecherischen Überfall aber neue Dynamik. Gewiss, Fracking, Ölexporte aus Diktaturen und andere unschöne Phänomene machen kein gutes Bild. Aber am intensiven, nun wirklich intensiven Ausbau alternativer Energien führt kein Weg vorbei. Ich wünsche mir nur, auch wenn es schnell gehen muss, dass naturschützerische Aspekte mitgedacht werden. Kann eine Technisierung der Landschaft, wie in Teilen des Burgenlands zu besichtigen, wirklich eine grüne Alternative sein?


Jetzt aber zu den Hoffnungen. Ein paar weitere Hoffnungen habe ich wirklich. Bei aller Skepsis war das ja doch eine Hoffnung. Reine Utopie hingegen ist es, auf einen Regimewechsel in Russland zu hoffen. Der russischen Bevölkerung ist es zu wünschen. Was immer für ein Staat nach Putin kommt, die Rohstoffe sind weiterhin da und würden Abnehmer brauchen.


Weitere Hoffnung: Die europäische Vernunft könnte die reaktionären Regimes in ihrem Verbund einhegen, auch wenn sie sich jetzt im Hoch wähnen. Immerhin nannte Emmanuel Macron den polnischen Ministerpräsidenten Morawiecki, der ihn wegen seiner Gespräche mit Putin kritisierte, einen „rechtsradikalen Antisemiten“. Offene Worte hätte es auch über Viktor Orbán des öfteren gebraucht; wie sich zeigte, ist Zurückhaltung das falsche Rezept gegen ihn. Die deutlichste Sprache ist die des Geldes: soll die EU ihre Totengräber auch noch bezahlen?


Hoffnung vier: Dass das neoliberale Konzept des konstanten Zurückstutzen des Staates, in der Schürze des dümmlichen Slogans verkleidet als die Politik der „sparsamen Hausfrau“, in der Doppelkrise von Corona und Krieg an ihr Ende gekommen ist. Nobelpreispräger Joseph Stiglitz erachtet die Ära des Neoliberalismus als beendet. „Dem aktuellen Mangel an Widerstandsfähigkeit liegt das grundlegende Versagen des Neoliberalismus und des diesen stützenden politischen Rahmens zugrunde. Die Märkte sind auf sich allein gestellt kurzsichtig, und die Finanzialisierung der Wirtschaft hat dies noch verschärft. Sie berücksichtigen zentrale Risiken – insbesondere solche, die weiter entfernt scheinen – nicht in umfassender Weise, selbst wenn die Folgen enorm sein können. Darüber hinaus wissen die Marktteilnehmer, dass die Politik im Falle systemischer Risiken, wie sie bei allen oben genannten Krisen vorlagen, nicht tatenlos zusehen kann.“ Wir müssen angemessene neue Regeln des Wirtschaftens (und des Politikbetriebens) aushandeln, sagt Stiglitz. Das bringen uns die großen Krisen bei.


Hoffnung fünf unterstreicht Hoffnung vier. Sie können sagen, Stiglitz, ein bekannter „Liberal“, Sozialdemokrat oder so. Aber die Financial Times? Neoliberaler geht’s ja kaum, könnet man meinen. Was sagen Analytiker der FT? Sie heben hervor, dass die Antwort der Europäischen Union auf die Covid-Krise Ausgangspunkt einer ökonomischen Erholung war. Ja, die Vergemeinschaftung der Schulden! Was die Mahrers und Blümels dieser Welt als temporäres Phänomen hinstellen wollten, sehen liberale Kommentatoren der angesehenen Finanzzeitung als Ausgangspunkt für eine europäische Renaissance. „Die Zwillingskrisen haben eine einheitliche europäische fiskalische und politische Reaktion hervorgebracht, beginnend mit dem 800 Milliarden- Covid-Rettungsfonds. Unter europäischen Beamten wird bereits darüber diskutiert, den Rettungsfonds dauerhaft zu machen und die Einnahmen zu verwenden, um jene Herausforderungen zu bewältigen, die durch Russlands Aggression entstanden. Dies ist gepaart mit der Erkenntnis nationaler (auch deutscher!) Politiker, dass mehr in die Energiewende und in die Verteidigung investiert werden muss. Zusammenfassend besteht die Hoffnung, dass die Doppelkrise öffentliche Investitionen in einer Region ankurbelt, die mit schwacher Nachfrage zu kämpfen hat, und dass diese Investitionen Multiplikatoreffekte für private Investitionen haben, die sich langfristig erheblich auf die Produktivität auswirken werden.“ Die Zwillingskrise sei die Chance Europas (dass Adam Tooze, dem ich diesen Zugang verdanke, eine skeptischere Sicht der europäischen Zukunft hat, sei für heute verschwiegen).


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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