Kolumnennotizen, zum 700. Erscheinen. Bekenntnis und Belästigung. Bild first!
Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 700
Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:
Ich darf Sie mit einem Bekenntnis belästigen. Das war keine Frage, insofern ist die Belästigung bereits eingetreten. Durch ein Bekenntnis wird sie unterstrichen. Ich komme mir sehr seltsam vor, das Weltgeschehen aus der Ferne zu kommentieren. Das ist Unsinn, werden Sie bemerken, denn das Weltgeschehen hat überall sein Zentrum, nicht nur dort, wo gerade die Action zu sein scheint. Welt ist überall. Abgesehen davon, könnte es tatsächlich sein, dass irgendwo in der Mongolei oder in Patagonien gerade ein Mensch sitzt, dessen Gedanken den Weltlauf ähnlich umstürzen werden wie es jene von Kopernikus taten.
Das meinte ich aber nicht. Ich meinte jenes seltsam Gefühl von Weltverlorenheit, das einen angesichts von fremdem Leid überkommt. Man steht vor Leichen, vor toten Angehörigen Fremder, das Fernsehen oder Social Media bringen sie mir nicht einen Hauch näher. Ich kann die Bilder sehen, aber nicht entschlüsseln. Ich kann das Leid der Angehörigen nicht ermessen. Es ist eine Summe von Katastrophen, die sich mir entzieht. Ich kann sie mir auch nicht anschaulich machen, wenn ich versuche, selbst erlittene Verluste und Katastrophen (oder was ich dafür hielt) mir zu vergegenwärtigen.
Das färbt naturgemäß auf Analysen oder Aphorismen ab, die ich zum Geschehen absondere. Alles selbstreflexiv, aber was soll man sonst machen? Der Krieg war immer da, das merken jetzt viele, aber nun ist er so nahe, dass er bedrohlich unser Leben umstülpt. Er war nicht nur in der Form so nah, dass man das Geld zusammenzählen kann, das die Armeen dieser Welt in den letzten Jahrzehnten ausgaben, nein, vernichteten, oder die Raketen summieren, die Supermächte und weniger supere Mächte auf die Welt abschossen. Nein, der Krieg war mental immer da. Er lungerte im Hintergrund; Franz Schuh schrieb einen Roman, „Der Stadtrat“. Im Untertitel nannte er ihn „eine Idylle“, und dazu vermerkte er, dass Idyllen immer nur als Unterbrechungen dessen existieren, was im Hintergrund dräut. Dräuen ist ein gutes altmodisches Wort, das aufziehende Unwetter und Drohung in eines zusammenfasst. „Zwischen zwei Kriegen“ nannte Harun Farocki einen seiner Filme, und zwischen zwei Kriegen leben wir immer, nur hatten die meisten von uns das Gefühl dafür fast verloren.
Ich habe als Angehöriger der Generation Anti-Vietnamkrieg, späterer Zivildiener und halb überzeugter Pazifist – für die gute Sache und zur Selbstverteidigung wollte ich den Pazifismus schon gelten lassen, nicht gerade vor der Zivildienstkommsision, aber im richtigen Leben – die ganze Zeit gefürchtet, was jetzt kam. Dass das Containment der Supermächte nicht ausreichen würde; dass ihre zynische Beschränkung auf Stellvertreterkriege nicht anhalten würde, und dass die ganze Zeit jene Mentalität, die im westlichen Nachkriegsdeutschland gezüchtet wurde und ihren Einfluss auch auf gebildete österreichische Kreise nicht verfehlte, nur das war, was man den dünnen Firnis der Zivilisation nennt. Man musste sich nach dem Wegfall des Gleichgewichts des Schreckens doch fragen, wie lange das gutgehen wird, das ständige Zunehmen aggressiver Reize und das Abnehmen sozialer Ausgleichsmechanismen. Und dass die Reize zum Teil auf Parakriegerisches ausgerichtet waren, von Computerspielen wie World of Warcraft (gewiss, so harmlos wie Kriegsspielzeug) zur zunehmenden Agonisierung und Extremisierung in Sport und Wirtschaft. Hobbypsychologie, mag sein, aber ich wurde die ganze Zeit das mulmige Gefühl nicht los: wie lange wird das gutgehen? (Und für die Dumpfbacken unter den Lesern: nein, natürlich hat Putin an diesem Krieg schuld.)
Jetzt stehen wir mitten in einem hybriden Weltkrieg, and the worst is yet to come. Wir bewaffnen uns, mit gutem Recht und halbwegs besten Argumenten. Die EU muss mit sich ins Reine kommen und zur Militärmacht werden. Ihre Gründungslegende, nämlich „den Krieg zu exorzieren“ (der Historiker Perry Anderson) wird ad acta gelegt. Das kann nicht gutgehen. Man kann sich über Friedensbewegte und Pazifisten lustig machen wie man will, ihre bleibt die Utopie, für die es sich zu kämpfen lohnt. Kampf ist nicht Krieg, wie die Pazifisten der ersten Generation schon in den 1920er Jahren betonten. Mit Krieg fing die Zivilisation an, aber im Krieg endet sie auch. „Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben“ (Walter Benjamin).
Gibt es Hoffnung? Der Kanzler fährt zu Putin. Wie tapfer, dem Feind ins Angesicht zu blicken. Ex Bildzeitungs-Chef Kai Diekmann ist jetzt Karl Nehammers PR-Berater, und jene, die aufatmeten, weil die Springer-Nähe der NVP unter Sebastian Kurz als politische Ortsbestimmung eine entlarvende Peinlichkeit darstellte, können jetzt wieder tief nach Luft schnappen. Die Bildzeitung brachte die Kunde von Nehammers Reise als erste, obwohl, wie ein bebender (zornbebender?) Hans Bürger im ORF meldete, absolute Geheimhaltung vereinbart worden war. Bild first, lautet eben nach wie vor das Motto unserer konservativen Politik, auch wenn Diekmann schon lange nicht mehr dort ist. Man muss für alles dankbar sein: Richard Schmitt als Medienberater des Kanzlers ist uns vorläufig erspart geblieben.
Ist das alles? Nein, das ist nicht alles. Ich danke allen Leserinnen und Lesern, die mit ihren schönen und kritischen Reaktionen mein Leben bereichert haben. Das reichte vom Gedicht bis zur Zeichnung. Ich denke nach 700 Folgen nicht ans Aufhören, wohl aber daran, vielleicht die Veröffentlichung ausgewählter Zuschriften wieder einzuführen; mit ganz wenigen Pausen hat Ihr Zuspruch nicht aufgehört, anzusteigen, was mich natürlich ebenfalls zum Weitermachen ermuntert. Seuchen, Kriege, Krisen fehlen uns auf absehbare Zeit nicht, und wenn es nur die Kommunikationsseuche ist.
Sagen Sie bitte weiter, dass man diese Kolumne kosten- und folgenlos abonnieren kann, und bleiben Sie ihrem Autor gewogen, auch seinem Kooautor, dem Epidemiologen Robert Zangerle, dessen Ausführungen in der Pandemie vielen einsame Orientierungspunkte fachlicher Kompetenz, Zusammenfassung internationaler Forschungsergebnisse und politischer Kritik boten und auch weiterhin bieten werden. Die Seuchen sind nicht ausgestanden, nicht einmal diese eine, die sich Covid 19 nennt.
Und ja, Hoffnung gibt es auch. Mehr davon vielleicht in Kolumne 701 ff.
Distance, hands, masks, be considerate!
Ihr Armin Thurnher