Am Nollpunkt. Der Publizist und Anwalt Alfred J. Noll als Maler.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 686

Armin Thurnher
am 25.03.2022

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Nein, es ist kein Eskapismus. Nein, es ist kein Irrtum. Alfred J. Noll malt. Neben allem anderen. Ich hatte schon lange geplant, diesen Text zu bringen, aber ich wartete auf das Eintreffen des Katalogs. Dieser war nämlich verdruckt worden und musste neu aufgelegt werden. So kam es, dass die Rede, die ich auf Alfred J. Noll hielt, als eine Ausstellung seiner Bilder eröffnet wurde, und die auch als „Einführung“ im Katalog gedruckt ist, erst jetzt zu Ihnen kommt. Falls Sie nicht wussten, dass Alfred J. Noll malt, erwartet Sie in dieser Publikation eine schöne Überraschung.

Ich bewundere Alfred J. Noll für seinen Mut.

Bei mir eine Rede zu bestellen heißt, das Risiko einzugehen, ein Echo in Formen der Dichtung zu bekommen, in Form von Oden, gebundener Rede. Er weiß es, er hat es selbst erfahren.

Es sind bekanntlich schon Quadratromane geschrieben worden, und die konkrete Poesie hielte ein reiches Formenrepertoire bereit, in dem man sich über konkrete Kunst ausdrücken könnte, „tan tandinanan tadinane“ undsoweiter.

Denke ich an Nolls Kunst, denke ich an das Quadrat. Er selbst hat ja über das Quadrat in der Malerei so gut wie alles gesagt, was zu sagen ist. Was vermöchte also ich noch über das Quadrat hinzuzufügen?

Das Unpassende zuerst: „Quadratisch, praktisch, gut“, lautet der bekannte Slogan eines Schokoladeproduzenten, der sich von der Konkurrenz durch die Form seines Produkts abzusetzen trachtet. Denke ich an Schokolade, wird mir die Macht geometrischer Formen erst wirklich deutlich. Der dreikantige Riegel, die Norm der rechteckigen Tafel, der Charme, der sich aus all den Abweichungen davon ergibt – beinahe verschwindet daneben der Geschmack von Schokolade.

Schon als Kind durchschaute ich die miesen Tricks der Fabrikanten, die einen soliden Zwei-Schilling-Riegel dadurch abmagerten, dass sie ihm nur den erhöhten Rand ließen, aber den Körper auszehrend verschlankten, was erst schmerzhaft sichtbar wurde, wenn man die Verpackung aufgerissen hatte – eine frühe Einführung in die Warenästhetik.

Kunst ist aber meistens keine Schokolade, außer bei Dieter Roth, wo sie ein scheinbar ewiges Leben als Wirt diverser Parasiten fristet. Roth verdanken wir andererseits auch visuelle Poesie, aber damit fangen wir hier nicht an.

Das Quadrat. Man versteht unter Quadrat auch die Multiplikation einer Zahl mit sich selbst, also der Flächenlängen, was gern als Modus der Steigerung oder Übersteigerung verstanden wird. „Zum Quadrat“ bedeutet die Andeutung eines Unmaßes. Das ist doch eine Idiotie zum Quadrat, sagt man umgangssprachlich.

Alfred J. Noll als Künstler besetzt die radikale Gegenposition zu solchen Spielereien, die versuchen, das Leben ins Quadrat miteinzubeziehen. Sein Quadrat steht gegen das Leben zum Quadrat, sozusagen. Nolls Kunst ist dezidiert leblos, im Sinn des Wortes von Karl Kraus „Was aus dem Leben gegriffen ist, fehlt dort“, und für solchen Lebensverzicht setzt das Quadrat ein entschlossenes Signal. Quadrat ist gleich Wurzel aus Vitalismus, könnte man bei Nolls Kunst vielleicht sagen.

Ritter Sport, so der Markenname der quadratisch praktisch guten Schokoladentafel, schaffte es naturgemäß nicht, diese Form Kasimir Malewitsch und seinen Erben abspenstig zu machen, unter die sich seit einige Jahren nun auch Alfred J. Noll einreiht, Champions der Leblosigkeit allesamt, bis auf den ersten in der Reihe

Unter „leblos“ verstehe ich in diesem Zusammenhang den Ausschluss von Beziehungen, den Ausschluss des Verweises und das Bestehen auf sich selbst, was aber nicht als l’art pour l’art missverstanden werden darf und mit Eskapismus gar nichts zu tun hat.

Leben, Psychologie, Geschichten, Anspielungen oder Deutungen sind bei Nolls Kunst ausgeschlossen. Das dürfen wir als Ausdruck höchsten Engagements verstehen – aber eben für nichts anderes als für Kunst. Das mag erstaunlich klingen, sollte uns aber nicht erstaunen.

Denn Alfred J. Noll ist einer der vielseitigsten Menschen, die ich kenne. Dass er seit einiger Zeit als Künstler hervortritt, hat mich also nicht wirklich überrascht. Ich gebe aber zu, ich bangte, wie seine Kunst aussehen würde. Man muss ja dann etwas dazu sagen, und das kann leicht zu Verlegenheiten, wenn nicht Verstimmungen führen. Die Gefahr der Verstimmung besteht keineswegs, die der Verlegenheit aber doch, in einer solchen befinde ich mich im Augenblick, aber ich denke, ich kann mich aus ihr befreien.

Schuld an meiner Verlegenheit ist die Nollsche Vielfältigkeit. An dieser Vielfältigkeit konnte ich bisher eine durchgehende Eigenschaft ausmachen, und zwar die Ironie.

Alfred J. Noll ist bekanntlich im Brotberuf Jurist, und ich darf Ihnen versichern, dass es ihm dort auf die Feinheit des Arguments ankommt, am besten wenn es einen zarten Riss im Gefüge des Überkommenen aufspürt, und dass er in solche Ritzen vorzugsweise mit Witz hineinfühlt, sodass man bei manchen seiner Schriftsätze laut lachen muss, sogar wenn man den Prozess verloren hat (was erfreulicherweise selten vorkommt).

Ich glaube, dass die Vielfalt der Nollschen Interessen und Fähigkeiten uns tatsächlich zum Kern seiner Kunst hinführen kann. Bedenken wir nur, was der Mann alles macht und schafft. Schrieb hervorragende Monografien über große Denker, Montesquieu, Hobbes, dazu eine Vernichtung Martin Heideggers. Legte zahlreiche polemisch-politische Schriften vor. Glänzender Jurist. Funkelnder Essayist. Verdienstvoller Herausgeber. Verfasste auch Didaktisch-Populäres, zum Beispiel eine Rechtsgeschichte. Trat als politischer Redner und Polemiker im Parlament hervor, untersucht Literatur im öffentlichen Dialog mit Schriftstellerinnen und Schrifstellern, und wirkt – wobei er ausnahmsweise nicht hervortritt – vielfältig als Mäzen und Retter publizistischer Projekte im Hintergrund.

„Buchstabenmonster“ habe ich ihn einmal genannt, einen unersättlichen Leser und Schreiber, einen Lettern-Polyphagen – und nun die Kunst? Wer frisst wen, die Kunst ihn oder er sie?

Noll hat die Rettung gefunden, und die Rettung heißt Nullpunkt. In seinen Worten ist das Quadrat, der Ausgangspunkt der konkreten Kunst, dieser Nullpunkt, und zwar unter Berufung auf Georg Wilhelm Hegel und die Malerei Kasimir Malewitschs (nicht dessen Ideologie), dessen Programm seine Bilder folgen.

Und Noll postuliert: „Konkrete Kunst hat sich mit anschaulichen und ansehnlichen Gründen festgelegt: Durch den Nullpunkt hindurch!“ Hier melde ich zarten Widerspruch an. Noll stellt in einer Broschüre Zitate von Brecht, Bergson, Merlau-Ponty und einigen anderen den Abbildungen seiner „Einfachen Formen“ gegenüber. Wehe, wir läsen diese Zitate als anekdotisch, als Illustration, als Andeutung auf etwaige inhaltliche Bezüge.

In diese Gefahr geraten wir nicht, das heißt wir geraten natürlich allzugern in die Gefahr, von der monumentalen Belesenheit Nolls verführt zu werden, aber wir widerstehen ihr, denn da ist der Maler Noll mit seiner konkreten Malerei vor.

Ich interpretiere sie nicht, denn ich möchte sie auf den Nullpunkt beschränken und diesen noch etwas anders interpretieren als der Künstler selbst. Seine Malerei ist in seinem vielfältigen Schaffen der ruhende Nullpunkt, etwas, das nun tatsächlich aller Ephemera entkleidet ist und dadurch stark wird, das es sich auf nichts außer sich bezieht. Schon gar nicht auf jene Ironie, die als moderne Haltung schlechthin Nolls sonstiges Werk grundsätzlich durchzieht. Der Nullpunkt ist der Nollpunkt des Malers Noll.

Die Widersetzlichkeit dieser Malerei liegt darin, dass sie auf alles verzichtet, was Bedeutung bedeutet, und uns so zwingt, Bedeutung selbst zu überprüfen. Nämlich als etwas, das wir in die Dinge hineinlegen, ohne dass es da wäre. Gerade auch auf so etwas wie Ironie.

Es geht hier in der Tat ums Prinzip. Dieses Prinzip beharrt nicht auf Inhaltslosigkeit, so etwas gibt es gar nicht. Es setzt die radikale Geste nicht des Verzichts, sondern der Reinigung. Es schlägt uns die einfachen Krücken von tieferer Ironie und höherer Bedeutung weg, die uns hindern zu sehen, was da ist. Es will uns auf das zurückführen, was wir vor uns sehen, auf das, was da ist, auf das, was ist, und sonst nichts.

Man sollte, um konsequent zu sein, nicht versuchen, es zu benennen, damit es sein kann, was es sein will: als Beginn einer leichteren Freiheit, unversöhnte Reduktion.


Alfred J. Noll: Einfache Formen.

Mit einer Einführung von A.T.

Bahoe Books, 40 Seiten, € 20,-


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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