Oligarchenjagd, humanitärer Rassismus und die Mutter aller Krisen

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 669

Armin Thurnher
am 05.03.2022

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Gestern war ich wieder einmal bei Meinrad Knapp, Puls24 und ATV2 und ATV, hat wie immer Freude gemacht, mit ihm, zwei Kollegen und einer Kollegin zu diskutieren. Die Themen stehlen einem heutzutage die Zeit. So kam es, dass wir ein wichtiges Thema nicht behandelten. Als wir vorher kurz beieinanderstanden, fragte mich Knapp, was ich von den Aktivitäten gegen russische Musiker wie Valery Gergiev halte (die Wiener Philharmoniker sagten Konzerte mit ihm ab, die Münchner kündigten ihn als Chefdirigenten). Ich sagte, Gergiev sei gewiss ein Problembär und hartgesottener Putin-Anhänger. Aber ich hielte solche Blockaden grundsätzlich für falsch, für einen Ausdruck von Cancel-Culture, bloß mit umgekehrten Vorzeichen. Ein erwachender Revanchismus und eine erwachende Rachsucht sind da zu bemerken, die nichts Gutes über die Rachsüchtigen sagen. Genauso wie der umgekehrte Rassismus, der nun all die Frauen mit Kind willkommen heißt, die sich, ohne Maske und selten mit Impfung (nicht ihre Schuld, aber nirgends ein Thema), zu Aberhunderttausenden an den Ostbahnhöfen der EU einfinden. Diese Mütter samt Kindern empfinden wir mit vollem Recht als hilfsbedürftig, und Schimpf, Schande und Wut gelten zu Recht dem, der sie vertrieben hat und ihre Männer umbringen lassen will, Wladimir Putin.

Hätten wir aber in unseren TV-Anstalten derart intensiv mit Bombenbildern und Berichten über den Heldenmut der Assad-Opposition berichtet, wären uns die dunkelgesichtigen jungen Männer als unserer Hilfe wohl würdiger erschienen, obwohl sie meist ohne Kinder unterwegs waren, bis auf jene, die wir auf Lesbos und im Archiv des Vergessens deponiert haben und jene, die vom Schlauchboot fielen und im Mittelmeer ertranken. Berichte, dass russischen Patienten im Westen die Behandlung verweigert werde, verbuche ich derweil ebenso als Fake News wie jene, an der Universität Mailand werde Dostojewski aus dem Lehrplan genommen. Das zweite ist verbürgte Desinformation, das erste nicht. Es sei nur „die persönliche Meinung einer Ärztin“ gewesen, hieß es. Und die Patienten waren keine Notfälle, sondern reiche Medizintouristen aus Russland. Der Furor des Westens, an dem auch ich teilnehme, und der sich bei der Aufnahme von Frauen und Kindern vor Menschlichkeit kaum retten kann, sieht aus, als hätte er etwas wettzumachen, etwa für jene afghanischen Frauen, die er nicht aufgenommen hat und die nun gesteinigt oder verprügelt werden oder einfach – um ihre Lebensperspektive gebracht – zwangsverschleiert hungern und frieren. Ja, man spiele nicht das eine gegen das andere aus. Als gelernter Medienethiker weiß ich wohl, dass es abgestufte Hilfspflichten gibt, das Standardargument gegen Radikalutilitaristen nach dem Muster Peter Singers, demzufolge uns unser Verhalten im Supermarkt bereits zu Massenmördern qualifiziert. Diese abgestuften Hilfspflichten legen uns die Nächstenhilfe näher als die Fernstenhilfe. Insofern verstehe ich, dass die Frau-mit-Kind-Hilfs-Attraktion über die Dunkelgesicht-mit-Testosteron-Überschuss-Repulsion siegt. Diesen Sieg als Sieg der Zivilisation zu interpretieren, schiene mir doch zu hoch gegriffen. Ich nenne es humanitären Rassismus. „Furor des Westens“, das ist natürlich schon wieder zu viel gesagt. Auch mich zieht der Krieg in den Phrasensog. Manchmal halte ich inne, um den Schaden an mir zu besichtigen. Eine gewisse Verfolgungslust ist festzustellen. Bis nicht der letzte Politiker aus seiner russischen Aufsichtsratpfründe in einen moralisch korrekten Rückzug getrieben und der letzte Oligarch um seine große Jacht gebracht ist, geben wir keine Ruhe. Der letzte Oligarch? Joe Biden lebte geradezu auf, und eine helle, cowboyartige Heroen-Aura legte sich um ihn, als er im Kongress rief: „Wir werden euch jagen, wir werden euch finden…“ „Und in der Finsternis binden“, jubelten die Republikaner im Chor mit. Ich glaube das alles erst, wenn der Ring ins Feuer von Mordor gefallen ist und der Oligarchenbegriff erweitert wird. Gibt es bei uns keine Oligarchen? Hatten die Oligarchen der Ukraine keinen Einfluss auf die dortigen politischen Verhältnisse? Sind sie ausgestorben? Wie wollen wir jene Oligarchen nennen, die nun freihändig schnell die Kommunikationsverhältnisse der Ukraine reparieren, indem sie Satelliten zur Verfügung stellen (Elon Musk), in Russland keine iPhones mehr verkaufen (Apple) oder keine Unterkünfte vermitteln (Airbnb)? Diesen Satz werden Sie bei mir eher selten lesen: Ich billige das Verhalten von Facebook. Ich billige aber das Verhalten von Facebook, nicht alle kommunikativen Taue zu kappen und alle Dienste in Russland einzustellen. Kaum hatte ich’s geschrieben, als Putin Facebook sperrte. Das zeigt die wahren Verhältnisse doch besser! Auch den TV-Sender Russia Today hätte ich nicht verboten, sondern versucht, seine Propaganda zu kontextualisieren. Putin kann seine Praxis, korrekte journalistische Berichte per Gesetz zu Fake News zu erklären und unter Strafe zu stellen, nun als Gegensanktion darstellen. Zumindest vor dem Rasierspiegel, der glaubt’s ihm vielleicht noch.


Ins Wochenende gebe ich Ihnen drei Gedanken mit: Erstens bringt es uns nirgendwohin, Wladimir Putin nur als den von Verbrechern umringten Schurken zu sehen, der er gewiss ist. Man muss seine geostrategischen Ziele erkennen und sich fragen, ob er die Schwäche des Westens zum Ausbau seines Imperiums ausnützen wollte oder ob es die letzte Karte eines sich umzingelt fühlenden Diktators war, die er mit seinem Völkerrechtsbruch ausspielte. Wir brauchen keine Gefühle, sondern rationale Analysen. Was wir gar nicht brauchen, ist Russenhass. „Jeder Schuss ein Russ“, das gehört in den Ersten Weltkrieg, vor dem man sagte, wie mich die gestrige Diskussion erinnerte, die wirtschaftlichen Verflechtungen der Welt machten einen Krieg undenkbar. Keine Propaganda der Welt darf uns in solche Emotionen treiben oder gar in die übliche Gold-gab-ich-für-Eisen-Opfermentalität: Frieren für den Frieden. Zweitens ist unsere hiesig-diesige Politik (zumindest teilweise) heilfroh über diese Krise. Sie überdeckt all jene Krisen, in denen sie sich bisher nicht eben glänzend bewährt hat. Die regierende ÖVP hofft, mit Hilfe Putins über ihr Korruptionsdesaster hinwegzukommen. Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka beschädigt im parlamentarischen Untersuchungsausschuss die Demokratie, um die ÖVP aus dem Schlamassel zu bekommen, was ihm nicht gelingen wird (man stelle sich vor, Putin unterstelle die Mikrophone der Duma-Abgeordneten seinem zentralen Schaltknopf). Der Ausspruch des Bundeskanzlers Nehammer, die ÖVP habe kein Korruptionsproblem, würde ihn jederzeit für die Aufnahme in ein beliebiges Desinformationskabinett qualifizieren. Und Landesrat Waldhäusl (FPÖ) chartert demnächst einen Bus, um ukrainische Frauen und Kinder ins Land zu holen. Drittens wird die österreichische Regierung, geführt von ebendieser ÖVP, mit der Mutter aller Krisen fertigwerden müssen, mit der Kombination aus Putin-, Corona-, Finanz-, Kommunikations- und Führungskrise. Kann und wird sie das schaffen? Hm. Zwar wird sie versuchen, über Inflation und Massensteuern die kleinen Leute die Rechnung zahlen zu lassen. Das geht immer, wenn es nicht zu Verwerfungen führt, die in einer irrationaler werdenden und desinformierten Öffentlichkeit nicht mehr durch Leitmedienmassage zu reparieren sind. Was wäre der Ausweg? Klare Reparatur- und Sanierungspläne. Was kostet wieviel und warum, wie wollen wir es machen, öffentlich und transparent dargestellt. Die finanziellen Opfer angemessen verteilen. Jene Leute in die Pflicht nehmen, die mit überproportionaler bis illegaler Bereicherung mit für das Schlamassel gesorgt haben, die Oligarchen aller Arten. Das wäre Sozialismus? Gewiss. Machen Sie sich keine Sorgen, dazu bräuchte es eine sozialistische Partei.


Distance, hands, masks, be considerate! Ihr Armin Thurnher @arminthurnher thurnher@falter.at

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