Ukraine: vielleicht erreicht Putin, was er verhindern wollte.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 662

Armin Thurnher
am 25.02.2022

Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:

Russland greift die Ukraine an. Russland greift sich die Ukraine. Der Mantel von Desinformation und Propaganda lüftet sich und weicht dem Nebel von Bomben- und Granateneinschlägen. Durch Desinformation vorbereitet, durch Cyberangriffe eingeleitet, von den Kommentaren vor Ort befindlicher Beobachterinnen und der Panik schreiender Einwohnerinnen begleitet und illustriert mit willkürlichen Bildern von Autokolonnen, von Schlangen an Geldautomaten undsoweiter, steht man weiterhin doch im Nebel.

Man weiß, es gibt Opfer, zu viele Opfer, man weiß nicht wie viele, aber gewiss sind es zu viele. Es sind immer zu viele.

Man hofft und bangt, die Führer des Westens würden den Kopf nicht verlieren, wenn sie ihn nicht durch ihre Politik schon verloren haben. Man fragt sich aber, wenn Geheimdienstinformationen der USA Joe Biden so blendend instand setzten, Putin „niederzustarren“ (was offenkundig misslang) oder dessen Desinformation durch offene Information zu begegnen (was gelang, aber folgenlos blieb), wo war dann die Bereitschaft der Ukraine, sich zu verteidigen? Oder wurden wir über ihre Bereitschaft großflächig desinformiert?

Als westliche Militärberater schrieben, die Ukrainer würden kämpfen bis zum äußersten, hielt ich das für Propaganda. Als ich die Aufrufe des ukrainischen Präsidenten hörte, wehrbereite Personen und Veteranen möchten sich melden, fragte ich mich, ob das alles gewesen sein konnte, die hilflosen, immer wiederholten Propagandabilder von Zivilistinnen, die mit Holzgewehren exerzierten. Das wirkte katastrophal und war katastrophal. Ebenso wie die öffentlichen Bekenntnisse deutscher Militärführerinnen, „blank“ zu sein oder in den vergangenen Jahren versagt zu haben, weil sie sich auf Putins Pläne offenbar nicht adäquat vorbereitet hatten.

Das ist verblüffend und desillusionierend. Putin ist auf alles vorbereitet, der „Westen“ nicht. Aber es gibt in der Ukraine den Willen, zu kämpfen. Die ukrainische Regierung läuft nicht davon. Die Armee setzt sich zur Wehr, vielleicht wird es einen Guerillakrieg geben. Ob der verehrte Patrick Cockburn seine noch vor zwei Tagen geäußerte Einschätzung, Putin werde sich in der Ukraine so verkühlen wie Saddam Hussein bei seiner Invasion in Kuwait, aufrechterhält? Ich kann es mir nicht vorstellen. Dass Putin in der Ukraine ein zweites russisches Afghanistan erlebt, schon eher.

Die Phrasenversuchung in Zeiten des Krieges ist gewaltig. Gut, dass im Inland Kanzler, Vizekanzler und Oppositionschefinnen Festigkeit bewiesen, ohne bellizistisch zu werden; das hat man bei anderen, fernerliegenden Konflikten schon anders gesehen. In der Presse war es nicht ganz so; dort wurde jede auch nur kleinste Infragestellung der Ukraine und des westlichen Verhaltens, sprich der Ausweitung der Nato und der Annäherung von Rüstungsgut an die russische Grenze aggressiv abgekanzelt. Die Zurechtweisung der Grazer KPÖ-Bürgermeisterin für ein Statement, das sie sich besser erspart hätte (obwohl es aus ihrer Sicht eine harsche Kritik an Putin darstellte), beanspruchte mehr Interesse als Kritik an der notorischen Oligarchenfreundlichkeit unter Österreichs postpolitischer Elite. Immerhin legte Ex-Kanzler Christian Kern, am wenigsten unter O-Verdacht, sein Aufsichtsratsmandat in der russischen Staatsbahn zurück. Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel bleibt Lukoil treu, das ist ja bloß eine private Firma.

Man wünscht sich, der sogenannte Westen würde nicht von traurigen Figuren wie Johnson und auch Biden angeführt, die jede Gelegenheit nützen, um Probleme im eigenen Land mit internationalen Strongman-Posen zu übertünchen. Die Kriegserklärung Putins hilft.

Zugleich offenbaren sich all die Zweischneidigkeiten, die uns die Strategie Putins und seine westliche, durch Gier diktierte Fehleinschätzung auch bescherte: die Oligarchifizierung zuerst. Nur ein Beispiel: Wie Boris Johnsons Ex-Berater Dominic Cummings bemerkte, haben die Oligarchen die englischen Tories in den letzten Jahrzehnten finanziert. Die City of London bezeichnen sie schlicht als „Wäscherei“. Den anglo-russischen Oligarchen soll es, glaubt man den starken Beteuerungen einzelner Engländer, nun an den Kragen gehen. Man kann gespannt sein, wie inkonsequent Österreich da wieder einmal ist. Das Oligarchen-Argument stach ja bei der Übernahme der MAN-Werks in Steyr durch Sigi Wolf überhaupt nicht.

Wie wehren wir uns gegen Putins Völkerrechtsverstoß? Mit Fernsehansprachen. Aber jetzt werden wir aufrüsten. Nicht wir, die europäischen Nato-Mitglieder. In der Tat kommt einem in solchen Situationen, in die uns Putin brachte, schon in den Sinn, die geballte Faust in der Hosentasche als nicht ausreichende Verteidigungsmaßnahme zu betrachten. Der Anteil der demokratischen Welt schrumpft dramatisch, und, wie hier oft kritisiert, er wird von innen durch die Lügenwelt unterwandert, während der Lügendiktator Putin und sein Bundesgenosse Xi Jinping diese Welt daran erinnern, dass die politische Macht aus den Läufen der Gewehre kommt (Mao Tse-Tung). Karl Nehammers gern strapazierte Formel, nicht das Recht der Macht, sondern die Macht des Rechts gelte es zu verteidigen, in Ehren, aber, sorry to say, auch diese Rechtsfrage stellt sich wieder einmal als Machtfrage heraus.

Damit kommen wir in unmögliches Fahrwasser, ich weiß. Aber das Wort des Historikers Herfried Münkler, dass gerade im postheroischen Zeitalter eine der wenigen Möglichkeiten, zu einer europäische Identität zu finden, der Heroismus der Wehrwilligkeit darstellt, lässt sich nicht von der Hand weisen. Eine europäische Union ohne europäische Verteidigungsbereitschaft, ohne europäisches Militärbündnis, ohne europäisches Heer ist in der Tat undenkbar – man stelle sich die jetzige Situation mit einer Nato vor, und einem US-Oberbefehlshaber Donald Trump, der Putin wegen seiner Aggression als genial bezeichnete.

Ich schreibe das mit allen Beschränkungen, die man sich als Pazifist auferlegt, als der ich mich grundsätzlich verstehe.

Was soll man aber sonst denken, angesichts eines räuberischen Diktators, der versucht, ein Imperium wieder zu errichten, wie es die Sowjetunion einst darstellte. Man kann verstehen, dass er nach Jahrzehnten westlicher Politik ihm und seinem Land gegenüber verdrossen ist. Der untadelige Russland-Experte Wolfgang Müller sagte im TV ohne mit der Wimper zu zucken, ja, der Westen habe Russland zugesagt, die Nato nicht an die russische Grenze vorzuschieben und dergleichen mehr, aber das sei gleichsam alles diplomatisches Gerede gewesen, an das man sich in Anbetracht damaliger Verhältnisse unter Jelzin nicht zu halten brauchte. Putin sah das anders (auch wenn wir endgültig gelernt haben, ihm nichts, aber auch gar nichts zu glauben).

Man kann also Putins Motive verstehen, billigen aber kann man sein Handeln niemals. Er ist nicht verrückt, oder nur in dem Sinn verrückt, wie Napoleon es war, als er nach Russland marschierte. Seine Ukraine-Invasion ist eine erste Konsequenz jener neuen Weltordnung, die sich nach dem Abzug der USA aus Afghanistan etabliert. Eine oligarchisch dominierte Welt kann sich gegen ihre Neuordnung durch Lügner und Räuber schwer wehren (und die ukrainischen Oligarchen stellen in der Debatte sowieso den unbenennbaren Elefanten im Raum dar).

Aber wehren wird sie sich müssen, und wehren wird sie sich wollen müssen. Sonst wird sie am Ende nicht mehr viel müssen. Am Ende hat Putin damit vielleicht erreicht, was er am wenigsten im Sinn hatte. Er stärkt den Zusammenhalt der Europäischen Union.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:

Weitere Ausgaben:
Alle Ausgaben der Seuchenkolumne finden Sie in der Übersicht.

12 Wochen FALTER um 2,50 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!