Das GAP und seine Folgen. Ein Plädoyer fürs Selbstdenken.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 659

Armin Thurnher
am 22.02.2022

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Ich danke allen von Ihnen, die gestern mit guten Wünschen meinen Geburtstag ausgeflaggt und mit Kerzchen besteckt haben. Vorsichtshalber hatte ich ihn selbst bekanntgegeben, in Form einer kleinen autobiografischen Geschichte. Vielleicht wird es gar nicht bemerkt, dachte ich, aber das war nur billige Koketterie, denn ich kenne mein Publikum besser. Das liest mich wirklich, und ich habe das auch statistisch. Tausende, manchmal Zehntausende von Ihnen schenken mir jeden Tag Im Schnitt etwa fünf Minuten ihrer Lebenszeit, und ich kann nicht sagen, dass mich das gleichgültig ließe.

Kandinsky zum Geburtstag. Ein Nachklang

Zugleich lässt sich nicht übersehen, dass in dieser milden Form der Kommunikationsüberwachung auch ein Keim des Bösen steckt. Naturgemäß ist es die Firma Google, die solche Statistiken zur Verfügung stellt, mit dem Hintergedanken, dass ich die Zahl meiner Leserinnen und Leser mit allen Mitteln zu erhöhen strebe, auf dass diese weiterhin minutenlang auf dem bevorzugten Browser ausharren, unbemerkt ihre Daten abliefern, ihre Vorlieben bekanntgeben und die Frequenz der Falter-Website steigern.

Anders als der Firma Facebook geht es der Firma Google bestens. Unangekränkelt von den Suchmaschinenversuchen aufstrebender Konkurrenz dominieren sie den Markt.

Von den vielen Sünden der Firma Google will ich gar nicht reden. Da müsste ich bei der Erbsünde anfangen. In ihrem fundamentalen, von mir oft gelobten Werk „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ verzeichnet Shoshana Zuboff das Jahr 2002 als kopernikanische Wende des Digitalzeitalters. Damals trafen nämlich die Macher von Google die Entscheidung, sich nicht durch Mitgliedsgebühren oder Nutzungsentgelte zu finanzieren, sondern durch Werbung. Seither sind alle Algorithmen, die unsere Kommunikation hinter den Kulissen steuern, auf allen Kanälen auf Werbung ausgerichtet, was bedeutet, sie begünstigen alles, was Aufmerksamkeit steigert und stellen alles zurück, was darauf verzichtet.

Diese Entscheidung begünstigt logischerweise bizarre und radikale Äußerungen und benachteiligt zurückhaltende. Das Ansteigen von Verschwörungstheorien und Irrationalismus hat damit zu tun, vernünftige öffentliche Kommunikation gerät per se ins Hintertreffen.

Große Medien, die sich unhinterfragt diesen Tendenzen unterwerfen –das Quotendenken ist nur eine dieser Tendenzen – wirken nolens volens mit an jenem Großen Antizivilisatorischen Projekt (GAP), das da heißt: Abschaffung jeder vernünftigen öffentlichen Kommunikation, welche zumindest der Idee nach die Voraussetzung einer demokratischen Gesellschaft bildet.

Wenn von Hass im Netz die Rede ist, von ad-hominem-Attacken und persönlichen Untergriffen, von Lügen, Schwurbeln und Desinformation, wird allzuoft der zugrunde liegende Mechanismus des GAP ausgeblendet. Bei ihm aber müsste jede Mediendiskussion ansetzen.

Das GAP ist auch darauf angelegt, die großen sogenannten Qualitätsmedien zu delegitimieren, seien es öffentlich-rechtliche Anstalten oder seriöse Zeitungen – sie alle wurden aber nicht nur Opfer von Schlachtrufen wie jenem Donald Trumps: „Fake News“ – sie haben, da selbst mitspielende Opfer des GAP, ihr Gutteil dazu beigetragen, indem sie bei falschen Erzählungen herrschender Mächte mitmachten. Wie der große Linguist Noam Chomsky das so gültig ausdrückte, sahen sie ihre Rolle nicht im Säen von Zweifel, sondern in der Herstellung von Zustimmung, im „Manufacturing Consent“. Besonders tückisch und schwierig war und ist es, in der Corona-Krise den richtigen Ton zu treffen: weder staatsfromm, aber auch nicht staatskritisch um jeden Preis, weder freiheitsvertrottelt noch begeistert untertan. Das war schwierig, aber nicht unmöglich.

Was tun? Dem GAP allein Fakten dagegenzusetzen reicht keineswegs, obwohl faktenstarke Journalisten genau das zum Kult zu erheben trachten. In einem brillanten Text für die New York Review of Books hat die Philosophin Seila Benhabib auf eine wichtige Einsicht Hannah Arendts verwiesen: „Reflektive Urteile könnten nur durch Denken erreicht werden, was für Arendt eine geistige Aktivität bedeutet, deren Ziel nicht darin besteht, Faktenwissen über etwas oder jemanden zu erzeugen, sondern das Urteilsvermögen zu befreien, indem man gezwungen wird, sich mit Gewissheiten und Plattitüden auseinanderzusetzen – den eigenen wie auch denen, die man mit anderen teilt.“ Damit bezieht sich Arendt auf Kants Wort vom Selbstdenken, mit Hilfe dessen wir erst aus Fakten etwas machen können. Anders gesagt, Fakten ohne das Vermögen, sie kritisch zu bewerten, führen nirgendwohin.

Dass das Wort „Selbstdenken“ in der GAP in Misskredit gekommen ist, halte ich für eine Schande; ich habe nicht vor, mir das Selbstdenken vermiesen zu lassen, nur weil ein paar Selbstdenker in ihrem Denken nicht weiter kamen, als dass sie Tatsachen mit Meinungen gleichsetzen zu können meinen.

Erfreulicherweise gibt es in der GAP auch Gegentrends; man kann feststellen, dass kleinere publizistische Initiativen dazu gewinnen, wie der Falter zum Beispiel, weil sie einen journalistisch glaubwürdigen Kern aufweisen. Der Kampf der Gegner richtet sich also darauf, diesen Kern zu beschädigen, indem man die Reputation jener Leute, die diesen Kern bilden, zu zerstören versucht. Das wird nicht gelingen, ist aber wert, genau beobachtet und scharf bekämpft zu werden. Die Schwierigkeit besteht darin, sich dabei so wenig wie möglich in die Mechanismen der GAP verwickeln zu lassen. Davon demnächst hier immer wieder mehr.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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