SARS-CoV-2 kann endemisch und harmlos werden. Muss es aber nicht.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 654

Armin Thurnher
am 16.02.2022

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Wir würden uns gern entspannen. Aber gerade heute hat Epidemiologe Robert Zangerle eine dichte Packung für uns. Wie und wann wird SARS-CoV-2 von pandemisch zu endemisch? Man weiß es nicht genau. Was machen die Dänen richtig, und wir nicht? Das weiß man. Warum schafft es Österreich kaum je, seine Geschichte kritisch aufzuarbeiten, nicht einmal seine Pandemie-Geschichte? Und warum beharren seine gesundheitspolitisch Verantwortlichen darauf, nicht lernfähig und nicht lernwillig zu sein? Das fragen wir uns. A.T.

»Es gab schon im Sommer 2020 Leute, die überzeugt deklarierten, die Pandemie sei vorbei. Es gab im Sommer 2021 Leute, die überzeugt deklarierten, die Pandemie sei vorbei, zumindest für die Geimpften. Es gab Leute, die sagten, Delta würde die letzte Variante sein. Und jetzt: Omikron signalisiere das Ende der Pandemie, jetzt träte die endemische Phase in Kraft, das Virus könne sowieso nur milder werden, wir sollten nicht so kompliziert tun und unsere Angst vor der Normalität ablegen. Nicht wenige sind sehr begierig darauf, das zu sagen. Was stimmt daran?

„Wenn das Virus leichter übertragbar ist, wird es weniger virulent“, ist eine eingängige, aber sehr verzerrende Erzählung. So allgemein und einfach formuliert, steht diese Erzählung nicht auf wissenschaftlichem Boden. „Dass das Virus keinen Übertragungsvorteil hätte, wenn es den Wirt töte“, ist bei SARS-CoV-2 unzutreffend,  weil die meisten Übertragungen (Tage bis) Wochen, vor dem Tod passieren. Ganz abgesehen davon, dass eine zeitliche Perspektive völlig außer Acht gelassen wird. Was wären denn die Beispiele? Das Myxomavirus, mit dem 1950 in Australien versucht wurde, der Kaninchenplage mit der Bildung von Tumoren (Myxomen) Herr zu werden, wurde vor Jahren noch als Beispiel angeführt, weil tatsächlich in der ersten Zeit ein Rückgang der Sterblichkeit der betroffenen Kaninchen von 100% auf 50% beobachtet wurde. Ihr Immunsystem gewöhnte sich an das Virus, bis das Virus soweit mutierte, dass es das Immunsystem ausschaltete und so wieder letaler wurde. Die bisher bei SARS-CoV-2 verheerendsten Virusvarianten Alpha (Anfang 2021) und Delta (seit Sommer 2021) waren jeweils leichter übertragbar, und zwar etwa um 50% und 100% gegenüber dem originalen Virus. Die verstärkte Übertragbarkeit von Alpha und Delta war sogar mit mehr Virulenz verbunden. Das ist am ehesten als „Shit Happens“ zu interpretieren.

Die einzige Möglichkeit, eine Pandemie sauber zu beenden, bestünde darin, das Virus vollständig auszurotten – was bisher nur bei Pocken gelang. Im Wissen um die Übertragungsvorteile einer Virusvariante wie Omikron und der Möglichkeit, zahlreiche Wildtierpopulationen zu infizieren, hält das aber praktisch niemand für realistisch.

Omikron ist dem Ende der Pandemie allein deshalb näher, weil die Pandemie zeitlich weiter fortgeschritten ist, und sich Immunität durch Impfungen und durchgemachte Infektionen in der Bevölkerung aufgebaut hat, in den reichen Ländern vorwiegend durch Impfungen. Wäre Omikron die als erste auftretende Variante gewesen, so wären Krankheitslast und Todesfälle ähnlich ausgefallen, wie wir es 2020 bitter erleben mussten. Die Gefährlichkeit von Sars-CoV-2 hat sich aber durch Omikron deutlich vermindert, wie Berechnungen aus Großbritannien zeigen. Mitte 2020 war das Risiko, an einer Infektion mit Sars-CoV-2 zu sterben, über 20-mal höher als beim Grippevirus, inzwischen noch etwa doppelt so hoch (Vorsicht: Berechnung für Großbritannien).

Pandemien haben keinen offiziellen Endpunkt, an dem jemand kommt, klingelt und verkündet: „So, alles ist vorbei, zurück an die Arbeit“, Jubel, Feuerwerk, „Freedom Day“. Endemisch, aus dem Altgriechischen éndēmos, bedeutet: Eine Infektionskrankheit zirkuliert langfristig im Volk. Nun fragen Sie sich natürlich, wann genau die Pandemie (überall im Volk) endet und wann die Endemie beginnt. Dazu gibt es keine naturwissenschaftliche Definition. Die Endemie ist ebenso ein soziologisches und politisches Konzept wie ein epidemiologisches. Anthony Fauci definierte „Endemie“ heuer im Jänner so: „Die nicht zerstörende, nicht Unruhe stiftende (non-disruptive) Gegenwart des Virus.“ Als uns allen vertrautes Beispiel nennt er die Schnupfenviren (Rhinoviren).

So wie Fauci meinen viele Epidemiologen mit Endemie, dass ein Krankheitserreger zwar in der Bevölkerung zirkuliert, aber nicht mehr dieselbe massive Bedrohung verursacht, weil sich das Immunsystem und das Gesundheitssystem daran gewöhnt und darauf eingestellt haben. Was der Erreger tut, ist berechenbarer. Wann SARS-CoV-2 berechenbarer wird, weiß zum aktuellen Zeitpunkt niemand. SARS-CoV-2 kann noch ein paar richtig böse Varianten hervorbringen – oder auch nicht. Den Beginn einer Endemie wird man erst rückblickend bestimmen können. Und auch dann wird es keine Garantie dafür geben, dass garstige Mutationen ausbleiben. Berechenbar heißt nicht harmlos. Endemisch ist also nicht nur das von Fauci genannte Schnupfenvirus. Nein, auch Malaria ist endemisch, allein 600 000 Todesfälle pro Jahr; Polio war vor seiner weitestgehenden Ausrottung endemisch, und die Pocken mit 300-400 Millionen Toten allein im 20. Jahrhundert waren es auch. Eine Krankheit, die man erwischen konnte, und an der man eben auch sterben konnte. Und käme sie zurück, wäre sie genauso gefährlich wie damals.

Die Dänen haben nun als erstes Land sämtliche Corona-Restriktionen aufgehoben. Ob das voreilig war, werden wir sehen. Dänemark hat aber bisher vieles richtig gemacht, auch was die Kommunikation betrifft, die (fast) immer kohärent war. Bei der Einführung von Maßnahmen zeigte das Land kein Zögern. Den Bürgerinnen und Bürgern wurden stets realistische Ausblicke vermittelt. Die Regierung hat auch jetzt deutlich gemacht, dass sie jederzeit bereit ist, sofort wieder zu handeln. Dänemark rief am 10. September 2021 offiziell einen „Freedom Day“ aus. Das hat man dieses Mal vermieden, aber das abrupte Vorgehen am 1. Februar 2021 riecht schon ein wenig populistisch nach „es ist vorbei“. Dänemark hatte zu diesem Zeitpunkt wenig Wahlmöglichkeiten mehr zur Steuerung der Omikron Welle (BA.2 Welle), und das Risiko, die Kluft zwischen Bevölkerung und Politik zu vergrößern, war vorhanden. Es ist zu vermuten, dass Dänemark durchaus mit einem gerüttelt Maß an Verantwortung einen „neuen“ Weg gehen wollte, wiederum mit einer großen Bereitschaft zu lernen.

Ich kann das schon verstehen, obwohl es von außen zweckmäßiger schien, die Öffnungen stufenweise vorzunehmen (u.a. Maskenpflicht!). Und zusätzlich hätte man die letzten Schritte der Öffnungen so setzen können, dass für Immungeschwächte und bei Personen mit bestimmten Risikoerkrankungen „frühe“ Therapien leichter zugänglich sind (Paxlovid, frühes Remdesivir und monoklonale Antikörper). Für diese Menschen ist es jetzt schwerer geworden. Bei den monoklonalen Antikörpern muss ich zur Seuchenkolumne vom 19. Jänner ergänzen, dass bei BA.2 Evusheld im Laborversuch volle Wirkung entfaltet, es aber noch nicht zugelassen ist (in den USA nur als Präexpositionsprophlyaxe, nicht zur Therapie).

Wie schauen denn nun die Zahlen in Dänemark aus? Diese Frage allein birgt Sprengstoff in sich, zumal dänische Behörden derzeit verzweifelt versuchen, falsche Interpretationen ihrer Zahlen zu verhindern. Vor allem wird der Regierung unterstellt und vorgeworfen, dass in Dänemark die „Kriterien für die Aufnahme auf der Intensivstation sich geändert haben“, um eine geringere Intensivbelegung vorzutäuschen, was völlig aus der Luft gegriffen ist. Zu keinem Zeitpunkt der Pandemie gab es eine Änderung der Kriterien für die Aufnahme auf die Intensivstation. Tatsächlich ist die Zahl der Intensivpatienten seit vielen Wochen rückläufig. Während Dänemark knapp 20% der Belegung der Intensivstation von Österreich erreicht, ist die Gesamtbelegung von Krankenhausbetten auf die Bevölkerung bezogen relativ gleich groß. Die Zahl der täglichen Covid Todesfälle ist jedoch im Augenblick in Dänemark doppelt so hoch wie in Österreich. Solche Stichtagsvergleiche sind jedoch nicht unproblematisch, weil zu- oder abnehmende Dynamiken das Bild verzerren könnten.

Die Positivitätsrate (Prozentsatz der positiven Tests) war in Österreich seit jeher ein vernachlässigter Indikator für das Infektionsgeschehen und wurde nun zu einer kaum mehr interpretierbaren Anzahl durchgeführter Tests per identifiziertem Fall verhunzt, weshalb der Vergleich hier untauglich ist. Dass in Dänemark auch mehr Menschen eine 3. Impfung erhalten haben, ist bekannt. Weiter unten mehr davon. Die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit Covid in Dänemark hat sich zuletzt eher stabilisiert. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Übersterblichkeit sich einem normalen Niveau annähert. Darüber hinaus nimmt der Anteil der Todesfälle, die vermutlich auf andere Ursachen als Covid-19 zurückzuführen sind, zu und macht geschätzt fast 1/3 aller Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 in Woche 5 aus.

In Dänemark sinkt also, wie oben erwähnt, die Belegung der Intensivstationen seit Wochen und die Zunahme auf den Normalpflegestationen geht immer mehr auf Personen zurück, die nicht wegen Covid aufgenommen wurden, ein substantieller Anteil auf psychiatrischen Abteilungen (phasenweise 25%). Das führt zwar auch zu erheblichen Belastungen für das medizinische Personal, es wird aber in Dänemark als ein Zeichen gesehen, dass der Bann von Covid gebrochen ist. Wenngleich das „Durchlaufenlassen“ in Dänemark zu wirklich anderen Verhältnissen führt als bei uns, so irritiert das Insistieren auch der dänischen Behörden auf dem Unterschied zwischen „mit“ oder „wegen“ im Spital doch und man wird das Gefühl nicht los, dass das auf längere Sicht auf Haarspalterei hinausläuft.

Man tut so, als wäre grundsätzlich klar festzustellen, wer „mit“ und wer „wegen“ Covid im Spital liegt. Und es wird so getan, als wären Patientinnen „mit“ Covid für das Gesundheitswesen keine schlechte Nachricht. Beides ist falsch.

  • Es sind Personen mit Diabetes, denen es plötzlich schlechter geht, vielleicht wegen der Infektion mit SARS-CoV-2, vielleicht wegen der Grunderkrankung. Werden Sie im Krankenhaus „mit“ oder „wegen“ Covid aufgenommen?

  • Es sind ältere Personen, die das Virus nicht besonders heftig erwischt hat, die aber, allein daheim und krank, nicht klarkommen.

  • Es sind Personen mit Krebs, die für eine Chemotherapie oder für eine Operation ins Krankenhaus kommen und dort positiv getestet werden. Vielleicht werden sie nur „mit“ Covid dableiben. Vielleicht wird sich ihr Zustand aber „wegen“ Covid verschlechtern.

Die Zunahme der Spitalsaufnahmen ist in allen Altersgruppen festzustellen. Dänemark muss hier besser erklären, wie die Lage tatsächlich ist, sonst entsteht der Eindruck, dass dort – so wie in anderen Ländern – versucht wird, sehr spezifische Daten einer Erzählung anzupassen, die wir alle so verzweifelt wahrhaben wollen. Man hofft, dass Dänemark erneut in der Lage sein wird, zwischen „es ist nicht so schlimm, wie es sein könnte“ und „es ist vorbei“ zu unterscheiden.

Dänemark hat eine sehr hohe Impfrate, bei den 5-11-Jährigen haben 47% die erste und 37% die zweite Impfung erhalten, in Österreich haben 21% zwei Impfungen erhalten. Bei den 12-15-Jährigen haben in Dänemark 78% zwei Impfungen erhalten, in Österreich sind es 53% bei den 12-14-Jährigen. Die 3. Impfung ist in Dänemark stark priorisiert worden, sodass die Rate ab dem 40. Lebensjahr eindrucksvoll ansteigt.

Heute sollen Schritte für Öffnungen für den 19. Februar im Detail vorgestellt werden, es soll aber auch eine darüber hinausgehende Perspektive für den März geboten werden, wie es hieß: „Hier erscheinen aus aktueller Sicht bereits weitere Lockerungen der Maßnahmen möglich. Basis hierfür ist die weiterhin moderate Entwicklung der schweren Krankheitsverläufe aufgrund der hohen Booster-Quote im Land“, so Gesundheitsminister vorgestern. Die „hohe“ Zahl an dritten Impfungen, die eine so hohe Bedeutung zur Immunität gegenüber der Virusvariante Omikron hat, liegt um 20% tiefer als in vergleichbaren Bevölkerungsgruppen Dänemarks! Mir fällt da nur funktioneller Analphabetismus ein.

Aktuell, „aus gegebenem Anlass“ ein Themenwechsel. Dazu eine Geschichte zu Absurditäten über die Maskenpflicht: In einem Interview mit der spanischen Zeitung El Pais antwortete Bill Hanage, Epidemiologe an der Harvard University, lachend über die Sinnlosigkeit, dass in Spanien die Menschen draußen auf der Straße eine Maske tragen müssen und sie aber abnehmen, wenn sie eine Bar betreten. Die Maskenpflicht im Freien in Spanien galt unabhängig vom Sicherheitsabstand. Zumindest das versucht man in Österreich anders zu handhaben („FFP2-Maskenpflicht in geschlossenen Räumen und im Freien, wo der Mindestabstand nicht eingehalten werden kann“). Aber unsere Skiorte Ischgl, St. Anton und Kitzbühel folgten den spanischen Regeln, offenbar um im Nachhinein noch einmal zu betonen, dass Après-Ski Lokale keine Orte von SARS-CoV-2 sein können. Diese Absurditäten brachten Bill Hanage aber auf ein anders Beispiel: er habe reichlich Mühe zu verstehen, dass in Schulen in Großbritannien die Schüler Masken tragen sollen, wenn sie sich zwischen den Klassenzimmern bewegen. Aber sobald sie in ein Klassenzimmer kommen und eine Stunde lang neben denselben Mitschülern sitzen, dürfen sie die Maske abnehmen. So erzeugt man Missverständnisse über die Übertragung von SARS-CoV-2. Das kommt einem irgendwie bekannt vor. Österreichs Regierung richtet sich aber nach den Experten oder hier oder hier   Wenn es nicht so ernst wäre, dann….

Wie hätte es anders sein können: Viele sehen jetzt keinen Grund mehr für Einschränkungen, da sich die Lage auf den Intensivstationen unverändert entspannt zeigt und die Infektionszahlen rückläufig sind. Stimmt das überhaupt? Den Fallzahlen ist im Augenblick mit großer Vorsicht gegenüber zu treten zu viele haben sich nicht PCR testen lassen, weil 1450 stundenweise blockiert war. Seit Wochen war klar, dass in der Omikron Welle damit gerechnet werden muss, dass Normalpflegestationen der Krankenhäuser und ambulante Versorgungsstrukturen (Praxen, Ambulanzen, Tageskliniken) überlastet werden. Die Corona-Kommission hat versucht, die „Auslastungsgrenzen“ von Erwachsenen-Normalpflegestationen zu definieren, und zwar aufgrund von Erfahrungswerten der Bundesländer, die dort zu Stufen- bzw. Krisenplänen führten.

Das war ein überfälliges Abrücken vom „alleinseligmachenden“ Fokus Intensivstationen. Omikron hat diese Dringlichkeit ausgelöst. Demnach käme es bei einer Covid-spezifischen Auslastung von etwa 4 % von Normalpflegebetten (rund 1500 belegte Betten) bereits zu ersten Einschränkungen der Regelversorgung. Bei rund 8 % (rund 3.000 belegte Betten) Auslastung mit Covid-Patientinnen und Patienten wäre wohl überall (Ampelkommission schreibt kryptisch „in vielen Bundesländern“) nur noch ein reiner Akutbetrieb der Spitäler gewährleistet (erneut keine elektiven Eingriffe, Routineuntersuchungen etc. mehr). Eine Belegung von 4% entspräche 16,85 belegten Betten pro 100 000 Einwohner (untere rote gestrichelte Linie); diesen Wert haben am 15. Februar Vorarlberg und Salzburg gerade noch unterschritten, Wien und Tirol sind nicht weit von den von der Corona Kommission einschränkenden 8% (obere rote gestrichelte Linie)entfernt. Ein Abfallen der Kurven ist nicht in Sicht. An manchen Orten ist man knapp an der Grenze zum reinen Akutbetrieb. Kümmert das unsere Regierung und die Landeshauptleute, solange die Intensivstationen Platz haben? Die jetzt oft geäußert, sehr einfältige Sichtweise über das Funktionieren des Gesundheitssystems macht wütend.

Es ist allerdings zu befürchten, dass nicht nur inadäquate Schritte gesetzt werden, sondern, dass nun auch eine Phase des Pandemie-Revisionismus beginnt. All jene, die überlebt haben und nicht schwer oder chronisch krank wurden, werden dazu neigen, die Gefährlichkeit von SARS-Cov-2 rückwirkend falsch zu beurteilen. Die Zeugen und Opfer werden im Alltag wenig sichtbar sein. Das Leben geht weiter. Man nennt es Survivorship Bias. Diese kognitive Verzerrung müssen wir verhindern, sonst gibt es keinen Lerneffekt, und die nächste Welle oder Pandemie wird uns wiederum kalt erwischen. Der Tenor, wir hätten es gar nicht so schlecht gemacht, wird immer lauter. Die Bereitschaft, die enorme Übersterblichkeit Ende 2020/Anfang 2021, die 14 000 Toten und Zehntausenden Hospitalisierten mit wenigen Sätzen abzutun, wird größer.

Wer die Vergangenheit allerdings nicht kritisch aufarbeiten will, wird auch nichts für die Zukunft lernen. Auch umfassende staatliche und parlamentarische Untersuchungsberichte zum ersten Pandemiejahr wie in Schweden („Verspätet und ungenügend reagiert “) und Grossbritannien („Falscher Ansatz hat Leben gekostet“), die beide den Regierungen ein verheerendes Zeugnis für ihre Pandemiebewältigung ausstellten, sind in Österreich wohl nicht zu erwarten. Mit Vergangenheitsbewältigung und Selbstkritik tut sich Österreich seit jeher schwer.

Österreich ist jetzt natürlich unvergleichbar besser aufgestellt als zu Beginn der Pandemie. Noch ist aber kein Land, keine Region über der Ziellinie. Viel Unklares und das „Durchlaufenlassen“ dürfen Schlüsselaspekte nicht ignorieren:

  • Die Krankheit verläuft bei Menschen mit Immunität viel milder, aber bei vielen keineswegs „mild“.

  • Nicht alle können durch Impfstoffe geschützt werden und das Virus ist für sie nicht weniger gefährlich geworden

  • Zugang zu sozialen und medizinischen Leistungen und Gerechtigkeit sind von großer Bedeutung

Weil wir also von der Pandemie genug haben, nehmen wir bewusst die anhaltende Belastung des Gesundheitssystems, die zusätzlichen Toten und chronisch Kranken in Kauf.

P.S.: Ob Tests bald nicht mehr gratis sein werden, ist derzeit in Österreich in Diskussion. Sollten sie abgeschafft werden, würde das heißen, die Entscheidungen Dänemarks wurden überhaupt nicht verstanden. Ist den Verantwortlichen vermutlich wurscht. Dänemark testet weiter gratis und betreibt unverändert eines der weltbesten Surveillance-Systeme. Überfällig, sich dafür bei Dänemark zu bedanken.

P.P.S.: Ganz offensichtlich können die Verantwortlichen in Österreich nur die Maßnahmen des dummen Kerls („Hammer“), beim Tanz rutschen sie jedes Mal aus.« R. Z.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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