Holocaust-Gedenktag. Ich gedenke Leon Zelmans. Faste weiter. Höre Bach.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 637

Armin Thurnher
am 27.01.2022

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Heute ist Holocaust-Gedenktag. An diesem Tag gedenke ich des Freundes Leon Zelman, dessen Ängsten und Hoffnungen. Auf seinen Wunsch schrieb ich unter dem Titel „Ein Leben nach dem Überleben“ seine Biografie, sie wurde auch ins Englische und ins Polnische übersetzt (als einziges meiner Bücher). Andre Heller hat ihn „Leon Wolke“ genannt und ihm ein Lied gewidmet, in dem Leon ganz anders erscheint, als ich ihn sah. Bis auf die Zeilen: „Ja, so redet Leon Wolke,/ und ich will, dass ihr es wisst,/ denn man kann nur Lehren ziehen/ aus dem, was man nicht vergisst“.

Leon Zelman im Café am Stephansplatz Foto Felizitas Kruse, aus dem Band Es lebe der Widerspruch, Fotos aus 40 Jahren Falter, 1977-2017

Zu anderer Zeit werde ich auch hier ein wenig von ihm erzählen. Er starb 2007. Heute nur ein kurzes Zitat aus meinem Nachruf  im Falter über unsere Schwierigkeiten beim Abfassen dieses Buchs:

„Wir ritualisierten unsere Gespräche, um sie erträglicher zu machen. In einem Nachwort zur ersten Ausgabe des Buchs habe ich es geschildert; in der zweiten Ausgabe bestand er darauf, die Episode zu streichen und durch einen Appell für sein Haus der Geschichte im Palais Epstein zu ersetzen. Ich erzähle sie trotzdem noch einmal. Wir trafen uns stets im mittlerweile geschlossenen ersten Stock des Café Gerstner. Leon liebte es, dort zu Mittag zu essen und Leute zu treffen, immer ein Auge auf die Kärntner Straße, ein Auge aufs Lokal, wo er mir Details über Besucher zuflüsterte, der dort war bei der SS gewesen, jener im KZ … Manchmal machte er mich verlegen, indem er mich jemandem vorstellte: ,Das ist dieser wunderbare Goj mit dieser wunderbaren Zeitschrift, mit diesem Verlag, in dem auch das Echo erscheint. Wir schreiben ein Buch!‘

Es gab ihm Befriedigung, als der erfolgreiche Leon Zelman zu erscheinen, mit einem Büro im Zentrum, dem gegenüber der Stephansdom liegt, wie er sagte. Es gefiel ihm, gekleidet in feines, englisches Tuch vom Brühl aufzutreten, respektiert und gegrüßt von jedermann. Es nützte alles nichts. Als wir über die Mutter, den Bruder, das Shtetl redeten, den Tod, das Ghetto, das KZ, nahm ihm, dem stolzen Mittsechziger, die Erinnerung die Sprache. Wir dachten uns Abläufe aus, um sie zu finden, um das Unerträgliche irgendwie auszuhalten. Wir aßen immer das nämliche Menü, Kalbsfaschiertes mit Kartoffelpüree und Salat, eine seiner Leibspeisen. Bestimmt zwanzigmal haben wir das dort gegessen und dabei unter Tränen über Tod, Trauer und Tragödie gesprochen. Das Tonband lief immer mit, und das Essen wurde immer gegessen.“


Gestern lag ich mit einem Leberwickel auf der Couch und hörte Musik. Ein Leberwickel wird beim Heilfasten angewendet, um die Tätigkeit der Leber, dieses wichtigen Entgiftungsorgans anzuregen. Die naseweise Kritik des Worts „Entgiftung“ tut so, als wäre Fasten eine Art Hokuspokus und Entgiftung passiere durch Handauflegen oder frommes Verdrehen der Augen zum Himmel. Die Naseweisen bestehen darauf, dass die Organe des Körpers ihre Entgiftungsarbeit eh tun, und basta. Ja, das tun sie, aber wir können sie dabei unterstützen und ihre Tätigkeit anregen oder sie auch behindern. Ein Wettessen von Mcdonald’s-Viertelpfündern mit Käse, die ich ab zu und gern esse (samt Pommes), wäre eine solche Behinderung; das Fasten ist eine Unterstützung.

Dass mir das Fasten Momente erlaubt, in denen ich mich eine Stunde lang des Wahnsinns enthalte und mich etwas anderem widme, konzentriert und zugleich entspannt widme, auch darum geht es mir.


Die Zahl der Tweets reduzieren, auf meine Tweet Analytics pfeifen, das ist Narzissmus-Detox. So schwer es fällt, die BMI-Chats nur marginal kommentieren, auch wenn es hoffentlich dem Ärgernis, dem unsäglichen Wolfgang Sobotka, nun an den Kragen geht. Wenn man nur dem Pilz alles glauben könnte! Ich will’s ja gerne tun. Er wird die Chats der verfolgenden Staatsanwaltschaft übergeben, und dann werden wir sehen.

Es ist auch nicht leicht, den im Waldviertel eine GesmbH gründenden Meidviertler Sebastian Kurz zu ignorieren. Oder die BMF-Papers. Oder Alexander Schallenberg einfach vorüberziehen zu lassen, wenn er bei Armin Wolf aus Verzweiflung versucht, die nichtexistierende österreichische Außenpolitik aka „ganz klare Linie“ hinter einer Phrasenwolke zu verbergen, bei der immer etwas glüht, vorvorgestern die Drähte, gestern die Kanäle der Diplomatie.

Ein wahrer Gluthammer, dieser Schall und Rauchenberg. Ohne Rauch keine Glut.

Vielleicht sollte er einmal Flagge zeigen, oder wenigstens eine Flagge hissen, diesmal vielleicht nicht jene Israels, sondern die der Nato oder gleich der USA. Es warat wegen der Klarheit und wegen des glühenden Europäer- bzw. Österreichertums. Sehen Sie, all das und noch viel mehr erspare ich mir derzeit fast, weil ich faste.


Wollten Sie nicht vielmehr wissen, was ich hörte, und wie so ein Leberwickel gemacht wird? Können Sie selber machen, ist purer Lifestyle und geht einfach. Irena hat es mir vorgestern gezeigt. Der Einfachheit halber zitiere ich die Anleitung aus dem auch von ihr benützten Buch Wie neugeboren durch Fasten von Dr. Helmut Lützner.

„Füllen Sie eine Wärmeflasche flach mit heißem Wasser und pressen Sie die restliche Luft heraus. Falten Sie nun ein Leintuch einmal der Länge nach zusammen, tauchen Sie es zu einem Drittel in heißes Wasser und wringen Sie es aus. Legen Sie sich hin und breiten Sie die feuchte Tuchstelle auf der Lebergegend aus. Geben Sie die Wärmeflasche drauf und schlagen Sie das trockene Tuchteil darüber ein. Den ganzen Körper gut zudecken.“ Wo man das macht, ist egal, wichtig ist nur, es dabei warm zu haben und ruhig und entspannt zu bleiben. Allein durch das Liegen wird die Leber um 40 Prozent mehr durchblutet! So kann man mindestens eine halbe, auch eine Stunde und mehr bleiben.


Ich kann Ihnen sagen, wie lange ich blieb. 80:08 Minuten dauert die Einspielung von Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge, arrangiert für Streichquartett, aufgenommen vom Emerson String Quartet. Diese Musik, eine Art Abschluss von Bachs riesigem Lebenswerk, fasst zusammen, was er über die Fuge zu sagen hat. Sie ist vermutlich für das Tasteninstrument Cembalo geschrieben. Bach hat auch einen Contrapunctus in einer Alternative für zwei Tasteninstrumente ausgeführt, wo man alle vier Stimmen ganz deutlich erkennt.

Stimmen ja, aber welche? Bach hat zur Instrumentierung keine Angaben gemacht, er hat nicht einmal die Reihenfolge der Stücke festgelegt. Die Stimmen sind abstrakt, es sind keine menschlichen Stimmen, nur Klanglinien, die einander in einer Perfektion umspielen, die von dieser Welt ist, sich aber, wie in Kommentaren immer wieder bemerkt wird, jeder Sprache entzieht. Diese Musik will zeigen, dass es das absolut andere gibt, eine Vollkommenheit ohne physische Seite, abgesehen von der durch die Instrumente in Schwingungen versetzte Luft. Die Emerson-Aufnahme exemplifiziert das wunderbar.

Manchmal muss man sich wiederholen. Bach ist Religion für Atheisten, schrieb ich einmal, und Alfred Brendel mochte diesen Satz. Er trifft auf alle Musik Bachs zu, aber gewiss in hohem Maß auf die Kunst der Fuge. Sie einmal auf dem Klavier spielen zu können, wenigstens teilweise, bleibt ein Vorhaben, das mir mein Fasten wieder drastisch vor Augen gestellt hat. Wenn es mir noch gegeben ist, in jeder Hinsicht.

Große Musik ist eine Möglichkeit, der Lüge der Welt zu entrinnen, ohne dabei selbst zu lügen. Man wechselt einfach die Welt. Die Welt war wohl immer so verlogen wie heute, aber noch nie sah man ihre Verlogenheit so deutlich, so aufdringlich, weil sie aus jedem neuen Medium klarer herausquillt.

Herr, gibt mir einen Fortschritt, der mich nicht am Ende aus Verzweiflung zum Reaktionär macht. Das geht schneller, als man denkt. Man muss dabei gar nicht denken.


Herr Ober, noch einen Leberwickel, bitte!

Wie? Haben Sie nicht?

Ok, dann mach ich ihn mir halt selber.


In Erinnerung an alte Zeiten habe ich diese Kolumne mit der Feder geschrieben und dann abgetippt. Ging schnell, werde ich wieder öfter machen.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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