Unerfülltes, Angekündigtes und andere Vorsätze. Und das Neujahrsgedicht.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 615

Armin Thurnher
am 01.01.2022

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So vieles wurde vergangenes Jahr an dieser Stelle begonnen. Keine Angst: es folgt kein Seuchenkolumnen-Rückblick. Nur eine unvollständige Vorschau, zum Zeichen, dass ich vieles vergesse, aber nicht alles.

Waldviertel, letzter Spaziergang 2021

Es folgt eine kleine Liste der nicht erfüllten Versprechen, und dann – wie es schon einmal war, also kann man sagen, bereits Tradition hat: ein Neujahrsgedicht. Keines von den Spaßgedichten, wie sie Tante Elfi in Limerickform auf Twitter unermüdlich bringt, sondern ein ernstes. Keiner dieser Zweizeiler für Sobotka, die ihn irgendwann doch in die Spätpension bringen. Nichts von dem. Ein ernster Gesang der Frühe, sozusagen.

Zuvor aber die kleine Neujahrsliste.

Offen sind Texte (Auswahl):

– über die Frage, wie man richtig widerspricht, ohne andere und sich selbst dabei fertig zu machen.

– über die Sozialdemokratie, und warum sie bei uns nicht einmal in den für sie aufgelegtesten Situationen punktet.

– über den Unterschied zwischen Karikatur und Satire.

– über meine nicht quittierte Rechnung mit den ÖVP-Frauen.

– über Media Literacy, Digitalisierungswahn und Journalismus in der Schule

– über eine philosophische Kritik meines oft allzu blumigen Stils

Ferner Fortsetzungen zu angerissenen oder angekündigten Themen, etwa

– jene zum paradoxen Patriotismus.

– des Projekts „Schuld“ (schließt ungefähr dreißig Rezensionen nicht adäquat behandelter Bücher mit ein, darunter fünf druckfrische von Alfred J. Noll; die Schuldhalde wächst jedweden Tag)

– der Staatsoperette (wegen Überfülle des Materials zeitweise geschlossen)

– der besten Lyrikanthologien

– warum es Freude macht, auch schlechte Gedichte zu schreiben

– Kurz und die Kurzisten, wo immer man sie trifft.

Das alles wird mir gelingen oder auch nicht, wünschen Sie mir Glück dafür!

Ihnen wünsche ich alles Schöne für 2022.


Und nun zum Neujahrsgedicht. (Sie können, statt es zu lesen, selbstverständlich das Neujahrskonzert hören, wie ich).


 

Aufstehen

Den Atem eines fremden Gedichts

einziehen. Ans Klavier gehen,

die ersten Takte Con Moto spielen,

Schubert Deutsch 850.

Sich daran erinnern,

was man gestern vergessen hat,

den Namen Ottorino Respighis.

Ihn memorieren.

Den Körper absuchen

nach Wundmalen,

die über Nacht

zu bluten begannen;

sie salben.

An vergessene Obstsorten denken

und schiefe Satzstellungen,

diese Journalistenpest,

aufgekratzte Rede

umgegrabene Syntax

Objekt Subjekt Prädikat

auskennt sich keiner.

Auf Social Media feiern

buchstabengewandte Analphabeten

gerade wieder sich einander,

eine Formulierung,

die sie belächeln würden

selbstsicher banausisch.

Ich aber greife den Stabenstab,

buchstabengewandet

den Ich-aber-Greisenstab,

zu wandern und wandeln.

Sauerstoff nehme ich dankbar

Mnemosyne misch ich zu Lethe

lasse das Blut von Orangen gewandt

in Joghurtschalen fließen.

An Jugurtha denk ich und

den bitteren alten Cato, der

dem Senat eine Handvoll Feigen

hinwarf aus weißem Togagewand;

rachsüchtig, böse.

Das sanfte Schnurren von Dieselmotoren

kann Balsam für die Seele sein

in dieser Moderne. Ihre Automaten

werden besser komponieren

als Schubert und alt sterben, oder nie.

Manche wissen mit 25,

was sie mit 50 wollen,

ich weiß mit 70 noch immer nicht,

was ich mit 20 wollte.

Der Tod eines anderen weckt uns,

es ist nie zu spät

für einen guten Vorsatz.

Die Hölle kann warten.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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