Für Boomer von morgen: Sind wir die Chinesen von morgen?

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 609

Armin Thurnher
am 25.12.2021

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Der Italiener Marco d’Eramo ist ein eleganter, kluger Autor wichtiger Bücher und geistreicher Essays und Kolumnen, die vor allem in der englischen Zeitschrift New Left Review erscheinen. Kürzlich setzte er sich mit den jüngsten Ideen chinesischer Suprematie auseinander, und berichtete, wie sich westliche Konzepte in den fernöstlichen spiegeln.

Der Dalai Lama von Wien, wie die Lyrikerin Else Lasker-Schüler Karl Kraus nannte, setzte einst große Hoffnungen in das Kommen der Chinesen. Mit ihrer Sachlichkeit, so seine Hoffnung, würden sie die ornamentüberwucherte, phrasenkorrumpierte Unkultur des Westens wegfegen. Auch schuf er den Satz „Olle Kineser san Japaner“, um die Ignoranz des Wiener Publikums darzutun, dessen Volksmund-Urteil er wohl wörtlich zitierte.

Wir sind die Chinesen von morgen. Oder deren untertane Vasallen.

Das ist noch lange nicht ausgemacht, zu viele Fallstricke zieren den glänzenden Weg von Rotchina zur Weltherrschaft.

D’Eramos Aufsatz handelt aber auch davon, wie sich die Chinesen auf ihre Vergangenheit beziehen, und wie sehr ihre Antike Gegenwart ist, auf eine Weise, die uns unverständlich bleibt. Unser Umgang mit unserer Antike, unsere Renaissancen, verliefen immer prekär, immer bedroht von blutigem Scheitern, immer getragen von Missverständnissen, wie etwa die Hölderlin-Rezeption der Nazis, die den antikenversessenen Dichter ihren Soldaten auf dem Russlandfeldzug in volkstümlichen Heftchen in den Tornister steckten. Antike Heroen, in unsterblichen Verszeilen des revolutionären Nichtklassikers Hölderlin, als Aufmunterung zum Heldentod. „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ für die vor Stalingrad Erfrierenden und Verblutenden und zugleich eine Million Russen zum Hungertod Verurteilenden.

Man kann Hölderlin auch ganz anders verstehen, als bürgerlichen Revolutionär, dessen Stunde noch nicht geschlagen hat, aber seine Antiken-Fixierung bleibt uns doch schwer verständlich (der Hölderlin-Einschub war nicht von d’Eramo, dafür inspiriert von Karl-Heinz Ott).

D’Eramo stellt der chinesischen Klassik-Selbstverständlichkeit die neueste westliche Variante gegenüber: die Universitäten, vor allem in den USA, denen die europäischen Vasallen im Jahrzehnteabstand bekanntlich nachtrotten, schließen ihre Klassik-Abteilungen.

Das ist Dialektik, sagt d’Eramo verzweifelt-zynisch: die Aufklärung, direkt der Renaissance und damit indirekt dem Denken der Antike entsprungen, schuf Demokratisierung und Emanzipation, und diese Befreiung frisst nun ihre Großväter und Großmütter und schafft die Antike ab, weil sie, die diesen Fortschritt erzeugte, dessen Kriterien nun nicht mehr ausreichend genügt. Sie hat ihn, wie man früher sagte, überwunden. Kant ist auch nur so ein alter weißer Rassist.

Plato ist erledigt. Das Programm aller Reaktionäre, in Deutschland zuletzt vorgetragen von Martin Heidegger und den Nazis, nämlich die Abschaffung liberaler Vernunft im Geist eines Rationalismus, wird in Gestalt einer neuen Affektkultur durch die Hintertür etabliert.

Ok Boomer. Das war’s für dich.


Ob so viel suizidaler kultureller Energie staunt der Chinese und bekreuzigt sich. Nein, das gerade nicht. Ist der Papst ist unsere letzte Hoffnung, nachdem wir zu Sloterdijk nicht beten können? Müssen wir ins Umerziehungslager? Hier scheinen gewisse kulturrevolutionäre Gemeinsamkeiten zu bestehen.

Ich gebe zu, ich habe den Klassikunterricht gehasst und für unnötig befunden, weil er als Disziplinierungs- und Selektionsinstrument gehandhabt wurde. Jetzt hasse ich ihn dafür, dass er mich nicht weit genug in den alten Schriften gebracht hat. Jedoch spürte ich, dass da der Anschluss an etwas Grundlegendes war, der uns nur nicht recht vermittelt wurde, die Grundlage von allem. Ich sage nicht, dass das leicht ist, als Lehrer bin ich daran gescheitert, die Bedeutung von Rhetorik und Stil für das journalistische Wesen auch nur ansatzweise zu vermitteln.

Ich weiß aus den Reaktionen jüngerer Latein- und Griechisch-Lehrerinnen und Lehrer, dass heute vieles besser läuft. Habe auch nicht vor, mich den verbissenen Verwünschungen aller Konservativen anzuschließen. Bange aber um „den Westen“, wenn ich mir die grassierenden Vorstellungen von Bildung vor Augen führe, von Cancel-Kultur bis zu dummer Kommerz-Digitalisierung.

Gibt es Verächtlicheres als dieses stolze Fortschritts-Überlegenheitsgefühl, das alles abschafft? „Wann i amol was z’reden hätt‘, i schaffert olles o’“, sagt der Reaktionär und gute Dichter Josef Weinheber, dem betrunkenen Volk aufs Maul schauend. Heute schafft ein bloßer Sexismus-Anwurf alles ab. Diebe, Erpresser und Gangster aller Arten kommen immer durch, außer wenn sie eines sexuellen Übergriffs überführt werden.

Die 1968er waren, Gott sei’s geklagt, arrogant und ignorant genug, und polit-kommissarisches Benehmen war ihnen nicht fremd. Aber sie versteckten sich wenigstens hinter einer Lehre, die sie nachplapperten, und die auch in China noch in Schwange ist, dem Marxismus. Heute kommt mir vor, als brauche es außer dem Zeigefinger und der Meute keine Lehre. Nur die Lehre des gesenkten Daumens. Und das unreflektierte „Wir“. Da lachen die Chinesen.

Hannah Arendt erklärt Günther Gaus, dass sich immer, wenn sie Deustch spricht, Gedichte in ihrem Kopf bewegen Screenshot: @ youtube

Ich höre jetzt wegen Sinnlosigkeit auf und komme zur versprochenen Arendt-Anekdote, die keine Anekdote ist, vielmehr ein Moment. Es gibt ein Interview, das Günther Gaus 1964 mit ihr führte, ein renommierter westdeutscher Publizist und späterer Diplomat. Man kann es auf Youtube ansehen, es ist eines der würdevollsten Fernseh-Sprachdokumente, das ich kenne.

Mitten im Gespräch gibt es eine Passage, in der Gaus fragt, was Arendt, die nach 1945 in den USA lebte, an Europa vermisse. Ohne zu zögern antwortet sie: die Sprache.

Und während sie antwortet, erscheint ein Strahlen auf ihrem Gesicht, ein heiteres Leuchten, wie sie erzählt, dass wenn sie Deutsch hört und spricht, immer Gedichte in ihrem Kopf kreisen, von denen sie hunderte auswendig wisse.

Wo noch ist ein solches Leuchten? Ein Leuchten, das ohne Zweifel jeden Menschen heller macht? Kann es sein, dass an Stelle dieses poetisch-rationalen Leuchtens nur mehr der Affekt nach Abschaffen, Korrektur, akklamativem Besserwissen eingeknipst wird?

Ich will es nicht glauben und lasse Arendts Antlitz in meine Feiertage leuchten, wie es auch ihre Prosa tut, vor allem, wenn sie, mehr dichterisch als philosophisch, die Agora und deren Öffentlichkeit als die Grundlage von allem beschreibt. Mögen ihr Lächeln und ihre Prosa auch Ihre Tage erhellen. Und die aller Chinesen dazu.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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