O Lesy, o Lassie, näher zu dir! Eine Weihnachtsgeschichte.
Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 585
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Als ich gestern im Flockentreiben meine Archivschachteln nach Hause fuhr, das andersbelastete Auto über Schneefahrbahnen steuernd und wie immer, wenn es schneit, das Fahrverhalten mancher Ostösterreicher bestaunend, dachte ich, wenn mich einer von denen auf der Autobahn abschießt und mein Archiv in Flammen aufgeht, was dann?
Ja, dann muss man sich halt ohne mich und ohne Archiv an Dinge erinnern. Gleich fiel mit diese Weihnachtsgeschichte ein, mit der ich Sie heute zuschneien darf.
Ende 1995 legte Hans Dichand, Neugründer und Herausgeber der Kronen Zeitung, einflussreichste und unheilvollste Gestalt von Medien-Nachkriegsöstereich, seine dritte Autobiografie vor. Sie kam kurz vor Weihnachten heraus, ich rezensierte pflichtgemäß das Buch, in dem auch ich vorkam. Ein kurzer Ausschnitt aus meiner Rezension, die ein langes Dichand-Zitat enthielt. »Seite 427: „Für manche, wie für den ultralinken Armin Thurnher, sind wir ein gedruckter Alptraum. Eine solche Beurteilung muß man nicht einmal ideologisch verstehen, sondern man kann es (sic) auch von den Auflagen her begreifen. Da ist der Falter mit einem talentierten Schreiber wie Thurnher, der einfach den Grundsatz negiert, dass sich ein Journalist nicht zu weit von seinen Lesern entfernen darf, und auf der anderen Seite die Krone, die sich an diese Erkenntnis hält. Wenn dann ein bedeutender Journalist wie Herbert Riehl-Heyse von München nach Wien kommt und einige Leute, unter anderem Thurnher, über die Krone befragt, muß er ein völlig gespaltenes Bild erhalten.“ Ich habe in meinem ganzen Leben mit Riehl-Heyse niemals auch nur ein einziges Wort gewechselt. Er hat sich allerdings in der Süddeutschen Zeitung zustimmend auf meine Einschätzung der Krone als „gedruckter Alptraum“ bezogen.«
Später lernte ich Riehl-Heyse freundschaftlich kennen, aber das ist eine andere Geschichte. Über meine Rezension im Falter 49/96 (brauchen Sie in keinem elektronischen Archiv zu suchen, das beginnt beim Falter erst 1998) setzte ich nämlich folgende Erzählung:
»Es ist Advent, die besinnliche Zeit des Jahres, daran zu erkennen, daß die Kronenzeitung die Brustwarzen ihrer Models verhüllt und ihren Lesern Adventskalender schenkt. Es ist die Zeit der Gedichte und der Holzschnitte, der Keksrezepte und der Weihnachtsgeschichten. Hier ist eine. Sie spielt im Winter 1973/74 und handelt von meiner ersten und einzigen persönlichen Begegnung mit Hans Dichand.
Zu dieser Zeit arbeitete ich neben meinem Studium als Lagerabeiter und Chauffeur bei der Firma Polaroid. Mein Chef war ein fröhlicher Kommunist, der auf Leistung Wert legte, mit mir Billard spielte, des Winters stets ohne Mantel mit offenem Hemd ging und mich Volksweisheiten lehrte wie: „Den Säufer und den Hurenbock friert selbst im wärmsten Winterrock.“ Meine Kollegen weihten mich in die Fährnisse des Zweiten Weltkriegs ebenso ein wie in die harten Anforderungen der Wiener Fußball-Unterligen. Sätze wie: „Der Boin derf vorbei, der Gegner nie“ schärften in mir den Sinn für den Ernst des Lebens. Auch mein internationaler Horizont weitete sich, indem ich mit freundlichen schwarzen Herren im Keller Sonnenbrillen sortierte. Wir tranken dazu Maniokbier aus Gösserdosen und sangen wehmütig zusammen die Nationalhymne: „Oho Nigeria, land of the happy, land of the free…“
Abbildung aus Falter 49/1996
Außerdem war ich als Chauffeur eines VW-Pritschenwagen eingesetzt, der mir beim Ausliefern von Kameras, Filmen und Brillen gute Dienste leistete und meinen Ehrgeiz nur dadurch bremste, daß die eingebaute Gasdrossel bei Tempo 110 Schluss machte, was sich bei der abendlich eiligen Rückkehr vom Westbahnhof nach Erdberg als Wettbewerbsverzerrung im Gürtelverkehr erwies. Eines Tages war eine Ladung Kameras bei der Kronenzeitung abzuliefern; für ein Leserservice, hieß es (hony soit qui mal y pense).
Ich stellte den VW auf den schmalen Parkplatz im Pressehaus, lieferte meine Kartons ab und zog flott wieder hinaus. Zu flott. Dem neben mir geparkten Mercedes hatte ich mit meiner hinteren Stoßstange eine nussgroße Delle in die Chromabdeckung des Scheinwerfers gedrückt. Ich meldete den Schaden beim Portier. Händeringend kam der Chauffeur gelaufen. „Das Auto vom Chef! Wissen Sie, was Sie da angerichtet haben! Spezialanfertigung! 40.000 Schilling Schaden mindestens! Da muss ich IHN SELBER holen.“
Mir rann der Angstschweiß von der Stirn. Das würde mich den Job kosten. Ob Polaroid überhaupt gegen sowas versichert war? Spezialanfertigung! Eine einzige Chromblende! Nach zehn Minuten erschien der Chef, von dessen Wesen und Wirken, Größe und Namen ich weder Begriff noch Vorstellung hatte. Elastischen Gangs näherte er sich, erfasste mit einem Blick die verzweifelte Lage des Kindes der arbeitenden Klassen, das da vor ihm stand, sowie die Relativität des Schadens. Statt auf mich einzubrüllen, sprach er: „Das wird schon“ oder etwas ähnlich Wohltuendes. Ich fühlte mich, als hätte er mir auf die Schulter geklopft. Die Meldung der Versicherung traf meines Wissens bei Polaroid nie ein.
So war sie, meine erste und einzige Begegnung mit Hans Dichand. Später sind wir in Sachen Warengeschenke für Leser zugegebenermaßen wieder einmal aneinandergeraten. Diesmal hat seine Firma Meldung gemacht, direkt bei Gericht. Aber von unserer persönlichen Begegnung, das sollte gerade im Advent einmal gesagt sein, blieb mir von Dichand der allertröstlichste Eindruck. In seiner Autobiographie fehlt diese Episode, und meine ist noch nicht erschienen. Dass er mir das Adjektiv „ultralinks“ anhängt, läßt sich mit einem Filzstift reparieren. Aber jedesmal, wenn ich wo einen Blechschaden sehe, überkommt es mich wieder, dieses vage Gefühl umfassender, weihnachtlicher Güte, beschleicht sie mich wieder, die Hoffnung, ER möge wieder auftauchen, elastischen Schritts, und, wenn nicht alles wieder gut machen, so doch erklären, es sei nicht so schlimm.«
Hans Dichand starb 2010, ohne dass wir uns je getroffen oder gar versöhnt hätten. Bei allen, die diese Geschichte schon einmal gelesen haben, entschuldige ich mich meinetwegen.
Distance, hands, masks, be considerate!
Ihr Armin Thurnher