Ich mach mir solche Sorgen um mich, um Fidel Castro und das Rote Wien.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 583

Armin Thurnher
am 25.11.2021

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Man darf sich nicht hinreißen lassen. Das wäre der Satz, den ich über das Eingangstor zur Hölle der sogenannten Social Media schreiben lassen würde. Man darf sich nicht hinreißen lassen. Diesen Satz kann man in allen Lebenslagen brauchen.

Zum Beispiel erzählte mir eine Bekannte kürzlich jene Geschichte, die Sie als Witz bereits schon einmal gehört haben. Sie hatte von einer Nachbarin erzählt bekommen, diese sei positiv auf Corona getestet worden. Deshalb traute sie ihren Augen nicht, als sie diese Nachbarin gerade zwei Tage später im Supermarkt erblickte. Sie teilte das der Kassiererin mit. Diese machte einen Aufruf, eine infizierte Person sei im Verkaufslokal, sie solle sich bitte bei der Kassa melden und das Lokal verlassen. Nichts geschah. Da rief die Kasssiererin die Polizei an und gab noch einmal bekannt, diese werde demnächst die Ausgänge kontrollieren. Daraufhin meldeten sich 25 Leute bei der Kassa.

Diese kleine, gern erzählte Geschichte mag übertrieben sein, ein unpractical joke, aber ich neige dazu, sie zu glauben. Ich habe unsere lieben Esoteriker hier zwar in Schutz genommen, jedoch nicht in Bausch und Bogen verteidigt. Ich kann nicht übersehen, dass ein gewisser Prozentsatz von Leuten im Land sich berechtigt fühlt, auf jede Coronaregel zu pfeifen, Tests zu fälschen, Testergebnisse zu ignorieren und andere anzustecken.

Man darf sich nicht hinreißen lassen, jetzt gleich nach mehr Polizeikontrollen zu rufen. Aber ein bisserl weniger markanter Nehammer im Fernsehen und ein bisserl mehr im wirklichen Leben könnte nicht schaden.

Es hat mich beruhigt, dass mein durchaus pädagogisch gemeinter Ansatz blankes Entsetzen hervorrief. Ich schrieb vorgestern: „Kreativere Strafen für Nichtgeimpfte wären auch denkbar: Kürzlich hörte ich von der Idee einer Coronasteuer: wer sich impfen lässt, befreit sich davon. Auch, dass Nichtgeimpfte, die geimpft werden könnten, vertraglich darauf verzichten, Behandlung im Krankenhaus in Anspruch zu nehmen oder dafür zu bezahlen und erklären, bei Triagen selbstverständlich nachgereiht zu werden, wäre eine Möglichkeit.“

Dazu wäre erstens anzumerken, zuviele „auchs“.

Zweitens, dass ich inzwischen nachgehört habe, wer die Idee mit der Steuer vorbrachte. Es war der Vizedirektor der niederösterreichischen Ärztekammer, Dr. Gerrit Loibl. Ehre, wem Ehre gebührt.

Drittens beobachtete mein um mich besorgtes Publikum („das erste Mal, das ich ,mit dem meisten nicht übereinstimme“), dass bei mir ein sozialdarwinistischer Ansatz walte – was wäre denn mit Adipösen, was mit Rauchern, was mit Skiunfallopfern, hielt man mir entgegen. Würde ich, sage ich verschärfend, mit solchem Denken an die Ideen des gefürchteten chinesischen Social-Credit-Systems andocken, das jedes abweichende verhalten registriert und bestraft?

Ja, in letzter Konsequenz würde ich das, und natürlich ist bei uns Freien jeder frei, sich fettzufressen und jede, sich die Lunge fortzupaffen – das Versicherungsprinzip hat jedenfalls zu gelten. Mir ging es darum, das Verantwortungsdenken anzuregen, und zwar in dem Sinn, dass alle die Folgen ihres Handelns bedenken müssen. Bekanntlich liegt die Grenze meiner Freiheit dort, wo sie die Freiheit des anderen beeinträchtigt; die Grenze der Freiheit in einer Seuchensituation ist dort, wo ich andere verseuche.

Man darf sich nicht hinreißen lassen, nach Gesetzesverschärfungen zu rufen.

Aber man muss bestehende Verordnungen und Gesetze durchsetzen. Demoverbote, Einhalten von Abstandsregeln wie in Lockdown 1 ruft noch keinen Bürgerkrieg hervor. Und man muss Wege finden, auch jenen Menschen den Ernst der Lage klar zu machen, die noch im Spital, in das sie mit Corona eingeliefert wurden behaupten, sie hätten nur eine Grippe. Es gibt Grenzen der Umnachtung, nicht jeder Wahn ist mehr sozial verträglich, aber wie gesagt, man darf sich nicht hinreißen lassen.

Führt man sich die Frivolität vor Augen, mit der die Regierung schon wieder agiert, noch immer agiert, fällt das immer schwerer. Sie sagt uns nicht, dass das Weihnachtsgeschäft gerettet werden muss, und setzt genau deswegen das Lockdown-Ende mit 13. Dezember fest. Woher wissen Schall- und Rauchenberg und sein Chef Kurz, wie die Infektionssituation an diesem Tag ist, wie die Lage auf den Intensivstationen? Und was werden sie uns nach dem Getümmel am Punschstand und dem Getriebe am Wühltisch sagen, das die Menschen so glücklich macht, wenn sie der nächste Lockdown unglücklich macht? Nein, man darf sich nicht hinreißen lassen. Hauptsache, der Corona-Kanzler arbeitet mit Hilde seines Neoreferenten „für alle möglichen Themen“ im Parlament, des einstigen Medienbeauftragten Gerald Fleischmann und mit Hilfe seines Schattenkanzlers unverdrossen am Comeback.

Mir kann er den Comeback hinunterrutschen. Aus den Intensivstationen wird berichtet, dass stets wachsende Teile des Personals, pflegendes und ärztliches, daran denken, sich nach der Pandemie aus diesem Beruf zu verabschieden. Nach der Coronakrise die Krise der Akutmedizin und die Krise der Pflege. Man kann verstehen, dass Menschen nach fast zwei Jahren über dem nervlichen Anschlag die Nerven wegzuschmeißen beginnen. Aber man darf sich nicht hinreißen lassen.

Das Rote Wien geht mit der Situation verantwortungsvoll um. Muss man deswegen ein Plädoyer für den Sozialismus wagen? Einer dieser zu allem entschlossenen Freiheitsrhetoriker formulierte seine zähneknirschende Anerkennung des Offensichtlichen so:  in Wien, da zeige „die Sozialdemokratie, dass sie das einzige von Kuba gelernt hat, das man von Kuba lernen konnte“, nämlich offenbar die Organisation von Impfungen und Tests. Und wo, frage ich, haben die Türkisen und die Schwarzen ihre segens- und hilfreiche Egomanie gelernt?

Man darf sich nicht hinreißen lassen.

Menschen, die im Roten Wien nicht das Erbe des Roten Wien und verantwortungsbewusste, sorgende Politik erblicken können, sondern bloß Fidels Bart, die knabbern halt heftig am Desaster des von ihnen angehimmelte bartlosen XX-Kanzlers, dessen narzisstische Politik an Corona und an seiner Hybris gleichermaßen zerschellte. Solche Leute beschwören typischerweise das Pathos von Freiheitsrechten, die keinesfalls eingeschränkt werden dürften. Als würde ihnen nicht jeder Ethik- und Jusstudent im ersten Semester die hier gebotenen Einschränkungen erklären. Holen wir vielleicht ein andermal nach. Die Pandemie ist eine Propagandaschlacht. Heute machen wir Schluss, ehe uns ein weiteres lähmendes Syndrom erwischt, das derzeit ebenfalls umgeht: die Seuchenfatigue.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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