Erinnerung an Oswald Wiener

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 578

Armin Thurnher
am 19.11.2021

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»kritik der ersten 49 seiten (Anm.: die Seitenzahlen sind in lateinischen Ziffern angegeben, Seite 50 = L)

meine meisterhafte sprachbeherrschung verführt mich häufig zu konservativen gedanken. mein humor ist allzu notorisch jener der amtsbekannten österreichischen intelligenz.

poesie leider ist öfters die frucht meines ärgers.

verflucht! die persönlichkeit ist so schwer zu bestreiten, die strafe ist stil.«

Oswald Wiener,

DIE VERBESSERUNG VON MITTELEUROPA, ROMAN       


Oswald Wiener, nun musstest auch du hinweg, die Münze dem

Fährmann unter der Zunge, den Maßanzug etwas schlotternd,

weniger werden wir, geht es dem Ende zu. Aber Maß für

Maß, so hast du es immer gehalten. Ich lernte dich kennen als

Autor des Buchs „VERBESSERUNG VON MITTELEUROPA, ROMAN“. Nicht

Genrebezeichnung war es, dieses „Roman“, sondern Teil seines Titels.

Kenner konnte man scheinen, wusste man das und zitierte man’s

richtig. Andernfalls war als Banause man Müll. So streng warn die

Sitten, Unsitten eher, mit dir als zentralem Charakter.

Andere Wörter hätte man heute dafür, aber was

wissen spätere Generationen vom scharfen Druck, vom

Muff der Reaktion, vom spießigen Wien samt Zensur und

Knast für Künstler wie dich und die anderen aus Hörsaal Eins

Uni-Ferkelei hieß es, und Jeannée denunzierte.

Keiner sonst hätte den großen Skandal gesehen, so aber

musstest du fliehen, mit anderen, nach Berlin. Dort freuten sich

alle über Lokale, die du gegründet, Exil und

Kantstraße, Paris-Bar.

Das Lokal als soziale Skulptur, auch

das eine Kunst der Avantgarde aus Wien, praktiziert hier

hat sie Kurt Kalb, der dich verehrte und dem du die Zuschreibung

gabst: „Die edle Oberflächlichkeit verzichtet auf Ausführung.“

Lachen musstest du, als ich’s zitierte im Oswald und Kalb am

Tresen. Aber du wusstest nichts von den heißen Augen, mit

denen wir MITTELEUROPA lasen, alles andere als ein Roman, eher

Norbert Wiener und Doderer machen gemeinsam den Handstand.

„PURIM, ein fest“, wie oft haben wir sie uns vorgelesen, die

Phantasmagorie des brutalen Zusammenschlagens alles

dessen, was Hochkultur hieß. Im Geist natürlich, aber so

saftig! Das ist schon Prosa mit Wumm. Das kybernetische

Zeug verstanden wir eh nicht.

Wiener Geist, das war Mathematik und

Anarchie, mit dir als Anarch. Ja, toxisch, das Wort blieb’ dir

heute gewiss nicht erspart, aber radikal Außenseiter zu

sein ist ein Preis, der feine Sitten nicht fördert, sondern die

Hierarchie der Guerilla. Kunst war fanatisch, die Wiener

Gruppe, Geheimherz der Nachkriegsmoderne in Wien, sie scharte um

dich sich, Individualisten allesamt, und

unterschiedlicher kaum zu denken. Einzig Rühm von

all den Genies lebt jetzt noch. –

Oswald Wiener, 1935-2021, fotografiert für den Falter von Heribert Corn.

Oswald Wiener, König von

Wien, vertrieben über Berlin bis Alaska, „Hirntier“ „mit

Eckzähnen“ (Schmidt und Benn). Solche Dichter mochtest du nicht, doch es

trifft dich ganz gut. Vergisst man den Gaumen nicht, nicht den Geschmack, und den

Anzug nach Maß: ein Herr mit Formen, ein Herr der Form ging

von uns. Oswald Wiener, cool warst du ante verbum, und

kühl registrierst du, was man dir nachruft, Hexameter auch noch.

Wäre nicht nötig, ich weiß, doch kommt es von Herzen. Ossi,

cooler Teufel, bleib wie du warst, auf der letzten der Reisen!


Das von Klaus Nüchtern im Oktober 2019  geführte Gespräch mit Oswald Wiener finden Sie hier.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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