Die Versäumnisse der Politik. Und ihre nicht eingestandenen Absichten.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 567

Armin Thurnher
am 06.11.2021

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Epidemiologe Robert Zangerle tut sich schwer, sich nicht zu wiederholen und nicht dauernd auf Seuchenkolumnen zu verweisen, die er vor einem Jahr oder noch früher schrieb. Vieles weiß man noch nicht über die Pandemie, aber eines steht fest: die Politik war und ist im Allgemeinen zu lasch, sie handelt zu spät und sie streut der Öffentlichkeit Sand in die Augen, um von ihrem Versagen abzulenken. Und dann tut sie noch so, wie der oberösterreichische Landeshauptmann Stelzer, als wären auch die Experten überrascht von der aktuellen Situation. Dabei lässt es die Regierung mit ihrer Durchseuchungspolitik auf eine Maximalbelastung der Krankenhäuser ankommen – zu Lasten der dort Beschäftigten und anderer Kranker, die nun auf ihre Behandlung warten müssen.  A.T.

„Die Zahlen der vergangenen Tage klingen so vertraut, als ob man vergessen hätte, die Zahlenstatistik vom letzten Herbst zu löschen. Die Inzidenz stieg in allen Altersgruppen an, Krankenhauseinweisungen und Intensivbelegung gingen steil nach oben. Und doch ist es anders als im vergangenen Jahr. Ohne Impfstoffe wären die Krankenhäuser längst an ihren Kapazitätsgrenzen, vor allem würden jeden Tag noch viel mehr Menschen sterben – so katastrophal viele, dass wohl auch die letzten Zweifler und Verharmloser überzeugt wären. Epidemiologisch stehen die Fallzahlen natürlich weiterhin am Anfang von allem. Sie führen zu weiteren Fällen, Hospitalisierungen und Long Covid. Aber 1000 Fälle sind heute differenzierter zu werten, als vor einem Jahr, die Impfung hat die Situation zum Positiven verändert. Der Begriff „Entkoppelung“ von Inzidenz und Bettenbelegung wird dieser Situation nicht gerecht.

Man kann sich aber über diesen Fortschritt nicht wirklich freuen, denn die, die dort behandelt werden müssen, liegen im Schnitt länger als ihre Vorgänger vor einem Jahr: Die vielen, jetzt jüngeren Patientinnen und Patienten ringen länger mit dem Virus, sodass nicht nur die Belegung der Intensivstationen, sondern sogar auch der Normalstationen nicht weit von einem kritischen Bereich entfernt ist.

Gerade etwas mehr als eine Verdoppelung sind wir momentan vom Maximalwert des letzten Herbstes entfernt. Diesen Maximalwert zu erreichen kann nur mehr mit Reduktion von Kontakten verhindert werden. Wenn, wie jetzt, zwischen 300 und 400 Betten der Intensivstationen durch Patienten mit Covid belegt sind (entsprechend 15% bzw. 20%), werden elektive Eingriffe ganz generell zunehmend eingeschränkt werden (müssen). Darüber werden wir aber nur bruchstückhaft informiert, statt dass die Stufenpläne, ab wann welche Leistungen (v.a. Operationen) gekürzt werden, transparent offen gelegt würden. Der Vorschlag, dies in die Ampel aufzunehmen, wird seit einem Jahr missachtet. Richard Greil, Leiter der Internen Medizin III in Salzburg, blies kürzlich ins selbe Horn wie ich: „Die Bevölkerung muss wissen, dass die Grenzen der Behandelbarkeit gegeben sind. Und dass ein Kollateralschaden für andere Patienten entsteht.“ Eine weitere Folge sind die erneut strengeren Besuchsregelungen der Krankenhäuser und Pflegeheime und zunehmend auch Besuchsverbote.

Wie konnte es wieder so weit kommen? Es gab unter den Verantwortlichen und deren Beratern fast einhelliges Einverständnis darüber, dass der Fokus auf die Belegung der Intensivstationen – und nicht oder kaum auf die Fallzahlen (Inzidenzen) – endlich Ordnung in die Bewältigung bringen könnte und gleichzeitig die Chance für einen Herbst und Winter „ohne große Einschränkungen“ gewahrt bliebe. Ein Standpunkt, gegen den die Seuchenkolumne seit August 2020 mehrfach entschieden argumentiert hat. Auch manche Mitglieder der Ampelkommission und andere Experten sahen ihn kritisch. Beleuchten wir das ein wenig.

In der Sitzung der Ampelkommission vom 19. August 2020 gab es Fragen. „Weiter sei die medial kolportierte Aussage, wonach eine Inzidenz von 10.000 pro Tag tragbar wäre, zu hinterfragen und eventuell eine Entgegnung angebracht“, fragte jemand und setzte nach mit der Frage „wie viele Fälle pro Tag man sich derzeit leisten könne, ohne den ICU-Bereich zu überlasten.“ Eine Person aus dem Prognosekonsortium meinte, dass es darauf ankäme, „wie hier, leistbar‘ definiert wird (10% der ICU-Betten oder 33% der ICU-Betten).“ Weiter führte die Person aus: „Unter Annahme einer homogenen Verbreitung des Virus unter der Gruppe der Ungeimpften wären rund 6.000 Fälle/Tag leistbar, um die 33%-Grenze nicht zu überschreiten bzw. 1.800 Fälle, um die 10%-Grenze nicht zu überschreiten.“ Das befriedigte nicht wirklich, weil der Frager noch anmerken wollte, „dass es jedenfalls erstrebenswert sei, einen Notbetrieb zu vermeiden“. Ein weiterer Teilnehmer betonte, „dass das Personal im stationären Bereich seit rund anderthalb Jahren stark belastet ist.“ Das Verständnis für eine weitere Belastungsspitze im Herbst sei daher gering.

Man wurde damals den Eindruck nicht los, dass „die Politik“ bereit ist, die Intensivstationen voll auszulasten, womit die Belegung von etwa 750 Intensivbetten gemeint ist. Es schienen aber noch nicht alle im Boot zu sein, auch Niki Popper, Mitglied des Prognosekonsortiums fragte ganz vorsichtig: „Man müsse sich dabei überlegen, ob man bei 750 Intensivpatienten ansetze oder ob es einem schon zu viel sei, wenn 300 oft junge Patienten eine entsprechende Behandlung benötigten“. Minister Wolfgang Mückstein schien aber bereits einen fixen Platz im Boot zu haben. Diesen Schluss lässt die Korrektur eines Erlasses vom Ende Mai zu: Hochrisikogebiete (dort können z.B. Ausreisetests verlangt werden) werden dort nicht mehr über die Fallinzidenz alleine definiert, sondern auch über die Impfraten. Die Auswahl der Zahlen dieses Erlass weiset vermutlich keine Rückstände an Laktose oder Gluten auf, aber ganz sicher sind diese Grenzwerte frei von jeglicher Evidenz.

Wie absurd auch, dass bisher Wohnzimmertests als „Ausreisetest“ galten. Es hätte nie darum gehen dürfen, möglichst bequem und günstig die 3-G-Regel zu erfüllen. Das Ziel sowohl für eine Ausreise, als auch für einen Zugang war immer, möglichst genau zu wissen, ob man angesteckt ist oder nicht. „Ausreisekontrollen“ machen aber sowieso nur dann Sinn, wenn damit eine Reduktion der Kontakte erreicht werden kann, indirekt über Reduktion der Mobilität. Die geografische Ausweitung der Hochrisikogebiete, wo von Tag zu Tag Bezirk auf Bezirk dazukommt, ist deshalb reine Augenauswischerei und führt zu grotesker Komik, vor allem in Oberösterreich. Jetzt ist aber generell für ganz Österreich eine Situation eingetreten, in der die Zahl der Kontakte reduziert werden muss, wenn man nicht das medizinische System unverantwortbar belasten will. Innerhalb von Maßnahmen einer Kontaktreduzierung könnten dann immer noch Hotspots (z.B. Gemeinden) mit einer Massenquarantäne (Ausreise nur für definierte Ausnahmen und strengen Kontrollen) belegt werden.

Wien hat die Gültigkeit der Wohnzimmertests für die 3G Regel bereits am 1. Juli abgeschafft, eine besonders wichtige Maßnahme, weil so auch der Interessenskonflikt ausgeschaltet wurde, einen Zugang selber mitgestalten zu können. Die Mehrheit der Bevölkerung konnte so ein besseres Verständnis für die Probleme der Pandemie entwickeln, eine kleine Minderheit von Tricksern konnte weniger Schaden anrichten. Und der Wohnzimmertest kann seinen ursprünglichen Zweck erfüllen, unabhängig von Zutritten, Infizierte zu finden und Ansteckungsketten brechen.

Die Indizienkette, dass es das erklärte Ziel der Regierung war, ausgelastete Intensivstationen in Kauf zu nehmen, verdichtet sich zunehmend. Am 8. September präsentierte die Regierung einen Stufenplan, der sich an der Auslastung der Intensivstationen (ICUs) orientiert. Vorerst waren es drei Stufen, die Belegung von 200, 300 und 400 Betten auf den Intensivstationen, wobei die erste Stufe gleich für eine Woche später in Kraft gesetzt wurde. Am 22. Oktober wurde der Stufenplan um zwei weitere Stufen, nämlich die Belegung von 500 und 600 Betten erweitert, wo die Stufe 5 den unausgegorenen und inhaltlich bis zum heutigen Tag leer gebliebenen Plan des Lockdowns für Ungeimpftebedeutet hätte.

Die einzelnen Stufen dieses Plans unterschieden sich jeweils marginal (Art des Testens, und ob 3G, 2,5G oder 2G gelten soll), sodass man unterstellen könnte, dass einer solchen Logik das Scheitern von Stufe zu Stufe innewohnt, also unkritisch in Kauf genommen wird. Das Purzeln dieser Stufen kann derzeit in Echtzeit beobachtet werden. Das Wesentliche, das jetzt ansteht, nämlich eine Reduktion von Kontakten, ist nur bei der Stufe 5, dem Lockdown für Ungeimpfte ganz vage angesprochen. Peter Klimek vom Complexity Science Hub der Medizinischen Universität Wien lieferte in einem Interview im Mittagsjournal vom 2. November unfreiwillig nahezu den Beweis dafür, indem er den Status Quo analysierte: „Von daher ist das jetzt momentan eher die Strategie Durchseuchung, die wir hier praktizieren.“ Durchseuchung führt zur Auslastung der Intensivstationen, also zum Erreichen des „Systemrisikos“, wie es offiziell heißt. Please don’t shoot the messenger!

Der Simulationsforscher Niki Popper gibt noch eines obendrauf: „Gesamtgesellschaftlich habe sich Österreich für eine Strategie entschieden, bei der man die Pandemie in Teilbereichen auch durchlaufen lässt – mit all den Folgewirkungen. Jetzt müssen wir damit zurechtkommen“ . Ob die APA das „gesamtgesellschaftlich“ wirklich korrekt wiedergibt? Wenn es so stimmt, dann fragen sich jetzt sicher viele Lehrer, Eltern und Schüler ob sie damit gemeint sind, und falls ja, wer dies demokratisch legitimiert hat. Deren Vorwurf, dass Kinder durchseucht würden, stand im Raum. Und dass diese Durchseuchung einfach ohne jede Not und zeitlicher Nähe zu Impfung betrieben würde.

Da entsteht jetzt Erklärungsbedarf. Schulen, ein schwieriges Thema. Es ist unmöglich, pauschal zu berichten. Ich kenne Schulen, die in der Lage waren, für Sicherheit zu sorgen, sehr eindrucksvolle Initiativen und sehr viele Lehrer, die seit Beginn der Pandemie sich eben so eindrucksvoll professionell um die Schüler kümmerten, im Gedächtnis blieb mir auch ein Turnlehrer, der mit den Schülern digital so gut im Austausch war, dass er die sportlichen Aktivitäten der Schüler im „Home Office“ zuhause beurteilte.

Mit zunehmend sichtbaren Folgen der jetzigen „Welle“ wird ein schon fast verstaubtes Narrativ aus der Trickkiste geholt, bei dem Lachen und Weinen eins werden: Landeshauptmann Thomas Stelzer erdreistete sich, anlässlich einer der Pressekonferenz am 4. November zu behaupten, dass nicht nur er, sondern auch die Experten von der jetzigen Situation überrascht seien. Das ist natürlich ein vorgeschobenes Argument, ein Nebelwerfen, nicht zuletzt eine Form einer Entschuldigung gegenüber den enorm belasteten Beschäftigten in Heimen und Krankenhäusern. Eine führende Covid Behandlerin schreibt mir: „Das stillschweigende Einverständnis der Regierung, dass man es auf die Maximalauslastung und Belastung des Krankenhauspersonales ankommen lässt, als Maßband für eine Reaktion ist nach allem, was wir für die Gemeinschaft getan haben, schon eine starke Ansage.“

Hat die Regierung also neuerlich zu spät gehandelt? Zweifellos im Sinne eines wissenschaftlichen Common Sense. Andererseits kommt es offensichtlich zu gut an, dass sie alles laufen lässt. Die Seuchenkolumne hat seit August 2020 wiederholt gegen die bloße Orientierung an der Belegung der Intensivstationen argumentiert, auch zu Zeiten wo die Normalisierung Platz ergriff, z.B. am 11. September: „Es bleibt also beim „konzeptlosen Köchelkonzept“ mit dem Belag der Intensivstationen als dem Maß aller Dinge. Reagieren, wenn die Intensivstationen sich zu füllen beginnen, ist definitiv zu spät! Wohin das führen kann, hat Österreich im vorigen Winter schmerzlich erfahren müssen“. Die Belegung der Intensivstationen hinkt um 10-14 Tage nach, die Fallzahlen sind dann oft so hoch, dass ein effektives Contact Tracing nicht mehr möglich ist. Etwas, das gerade in Österreich allerorten um sich greift, ganz offiziell. Welche anderen Maßnahmen sollen diesen Fast-Ausfall denn korrigieren? Das Ganze erinnert an Anita Schöbel, Leiterin des Fraunhofer-Instituts für Techno- und Wirtschaftsmathematik in Kaiserslautern, die im Frühjahr entnervt sarkastisch entgegnete, dass man sich „doch auch nicht an der Kapazität der Krematorien orientieren“  würde.

Zurück zum Nebelwerfen: Als würde der Umgang mit der Exponentialfunktion nicht eh schon unsere Intuition schachmatt setzen, wird über die Art wie dies vermittelt wird, eher noch zusätzlicher Schaden produziert. Starten wir mit der Weizen- oder Reiskornlegende. Der indische Herrscher Shihram wollte sich beim weisen Brahmanen Sissa für die Erfindung des Schachspiels bedanken. Dieser wünschte sich Weizenkörner: Auf das erste Feld eines Schachbretts wollte er ein Korn, auf das zweite Feld das Doppelte, also zwei, auf das dritte wiederum die doppelte Menge, also vier und so weiter. Es dauert ein paar Tage, bis klar wurde, dass so viele Körner gar nicht existierten. Das Ausgehen der Körner dürfte der Plan B unserer Regierung sein, tatsächlich wird von einem „Sättigungseffekt“ (die vielen Genesenen nach Durchseuchung ergänzen die Geimpften) gesprochen, der aber im nächsten Monat noch nicht effektiv werden soll. Die exponentielle Vermehrung im sehr kleinen Bereich ist tatsächlich schwer zu erfassen und wird auch deshalb oft bagatellisiert („stabil niedrig“), das ist aber nach 18 Monaten Pandemie zu leichtfertig.

Im scheinbar nur leicht wachsenden Bereich der Verbreitung, wenn die täglichen Fallzahlen beginnen, sich dem 1000-er zu nähern wird beruhigt, es sei alles „unter Kontrolle“. Erst wenn die absolute Zahl offensichtlich steigt, also in die Nähe bisheriger Maximalwerte gelangt, dann erst vernimmt man ein „Verdammt! Ist das exponentielles Wachstum?“ In Wirklichkeit entsprachen die geschilderten Szenarios immer exponentiellem Wachstum.

Tatsächlich hat es sich so seit Beginn der 4. Welle abgespielt. Die kleinen Fallzahlen Anfang Juli wurden abgetan, obwohl der Reproduktionsfaktor mit 1,40 höher war als die Mitte August gemessenen Werte um 1,20 oder jetzt die zum 31. Oktober geschätzten 1,22 vom Prognosekonsortium. Wenn man die Daten logarithmisch darstellt (rechte Grafikhälfte), stellen sich exponentielle Verbreitungen als Geraden dar, mit der rot strichlierten Linie veranschaulicht. Im Prinzip spiegelt ein höherer Reproduktionsfaktor eine steilere Gerade wider (siehe Anfang Juli).

Es gilt also immer Reproduktionsfaktor und die Inzidenz gemeinsam zu analysieren. Gewiss, bei kleinen Fallzahlen (Inzidenzen) gibt es Zeit zum Handeln, aber bei hohem Reproduktionsfaktor muss man bereit sein, früh zu handeln, sonst entsteht das, was wir jetzt sehen. Die Steigerung Mitte August wurde also zu „locker“ hingenommen. Als dann die relativ lange Phase bei relativ gleichbleibenden Werten einsetzte, wurde die Öffentlichkeit eingelullt, weil das Niveau bereits hoch war, von dem aus dann relativ rasche Verdoppelungen (länger als Anfang Juli und gleich wie Mitte August!) zu diesem jetzigen Aufschrei geführt haben.

Das war aber alles seit langem klar. Nicht klar war, wann das genau einsetzen würde und wie hoch der Reproduktionsfaktor klettern wird. Wissen wir auch jetzt nicht. Wenn das Prognosekonsortium am 2. November festhält, dass „eine systemgefährdende Entwicklung bei Anhalten dieses Trends (ist) deshalb nicht ausgeschlossen“ ist, könnte auch anders formuliert werden: wenn es nicht gelingt, den Reproduktionsfaktor massiv zu senken, ist eine systemgefährdende Entwicklung wahrscheinlich. Und zwar noch vor Weihnachten.

Wie den Reproduktionsfaktor senken? Mit einer Steigerung der Impfrate wird das bis Weihnachten nicht gelingen, weil im Augenblick die Steigerung der Impfrate um ein Prozent einer Senkung der Reproduktionsrate um 1-2% entspricht. Da davon auszugehen ist, dass dieser Faktor auf 1,20 (hoffentlich nicht viel höher) zugeht, wären das 10% mehr Erstimpfungen bis Weihnachten. Ein Ding der Unmöglichkeit. Aber diese Woche wurde einer neuen Lösung zugejubelt: „Drittimpfung als Durchbruchsbremse“. Die offiziell seit Anfang September ausgerollte Booster Impfung, die nicht mit der zusätzlichen Dosis bei schwer Immungeschwächten verwechselt werden darf, wurde nämlich ordentlich versemmelt. Nur ein sehr kleiner Teil der Ältesten erhielt eine 3. Impfung, wie aus Wien durchaus mit Stolz verkündet wurde. Andere Zahlen gibt es bisher nicht, eine unerträgliche Intransparenz.

Darf man fragen, wann denn die älteren Jahrgänge und die einmal mit Janssen Geimpften ihr Schreiben zur Auffrischimpfung bekommen haben? Man hat zwischenzeitlich von Israel, Dänemark, Portugal und anderen Staaten viel gelernt, weshalb sogar die Nichtgeimpften auch noch zum Nikolo einen Brief erhalten werden. Die Seuchenkolumne hat sich für die 3. Impfung ordentlich ins Zeug gelegt, am 30. August für über 80-Jährige und Immungeschwächte umgehend empfohlen, am 9. Oktober sowohl darauf hingewiesen, dass die Zeit drängt, als auch, dass Personen mit erhöhtem Risiko einer schwereren Erkrankung und 2x-iger Impfung mit Vaxzevria (AstraZeneca) und frontline workers eine 3. Impfung schon nach 4 Monaten bekommen sollen. Trotzdem, die Booster Impfung für alle nach 6 Monaten kann mit der ihr innwohnenden linearen Logik einer exponentiellen Ausbreitung wenig entgegen stellen.

Niki Popper meint in seinem APA Interview, „Letztlich sehr wichtig seien die nun auch hoffentlich bald Fahrt aufnehmenden Drittimpfungen, die dem Nachlassen der Wirksamkeit nach rund sechs Monaten wirksam entgegensteuern. Diese werden dann ihren Effekt am Beginn des neuen Jahres zeitigen“. Der Booster wird helfen, dass die jetzige Welle sich nicht in einer Monsterwelle über den ganzen Winter hinzieht. Aber nicht mehr! Demnächst mehr dazu.

Apropos unterschiedliche Meinung: Das nationale Impfgremium hält die „vorzeitige“ 3. Impfung meines Seuchenheiligen Armin Thurnher für unangebracht: „Eine Unterschreitung des empfohlenen Impfintervalls von 6 Monaten ist in begründeten Ausnahmefällen (etwa vor Antritt einer längeren Reise, bei besonders hohem Expositionsrisiko, wenn erste 2 Impfungen mit Vaxzevria etc.) sinnvoll und kann nach entsprechender Aufklärung und Dokumentation erfolgen (off-label)“. Das ist schon erstaunlich unprofessionell, Personen mit stark erhöhtem Risiko für schwere Verläufe von Covid (d.h, 65+) in diesem Zusammenhang nicht zu erwähnen. Hätte ich Armin Thurnher die längst ersehnte Reise nach Kerala als Indikation für seine 3. Impfung empfehlen sollen? Der 72-jährige Armin Thurnher hat auch ohne Buchung einer Reise nach Kerala 130 Tage nach seiner 2. Impfung mit Vaxzevria (AstraZeneca) Comirnaty (Pfizer-BioNTech) von der Hausärztin erhalten. Es gibt auch Ärztinnen, die Wissenschaft, Empathie und Priorisierung unter einen Hut kriegen.

Zum Abschluss noch ein Vergleich von zwei benachbarten Regionen, mit ähnlicher Geographie und Gesellschaftsstruktur, dem Bezirk Innsbruck Land und Südtirol, die über Bundesstraße und Autobahn direkt verbunden sind. Die 7-Tagesinzidenz vom 5. November 2021 beträgt in Südtirol 179/100 000 (Änderung gegenüber dem Vortag +8) und in Innsbruck-Land 410,6 (+16).

Hinkt Südtirol in der 4. Welle nach oder sind doch die stringenteren und wissenschaftsfreundlicheren Maßnahmen Italiens wirksam, obwohl Südtirol seine Autonomie gelegentlich auch unpassenderweise unter Beweis stellen will? Hatte zum Beispiel das verbreitete und auch tatsächlich befolgte Maskentragen (Einkaufszentren und allgemein in Innenräumen!) in Südtirol einen Effekt, der den Unterschied wenigstens zum Teil erklären kann?

Der Vergleich zwischen Innsbruck Land und Südtirol zeigt aber vor allem, dass Regulierungen ihre klare Auswirkung haben. Südtirol hat nach professionellerer Massentestung als Österreich im Dezember 2020 (2 Runden im Wochenabstand) unverständlicherweise nach Dreikönig 2021 die Gastronomie und Beherbergungsbetriebe geöffnet und wurde mit einem weiteren Peak (7 Tagesinzidenz am 10. Februar von 1531) „belohnt“. In ganz Nordtirol blieb dieser so aus. Das Gefälle zwischen den benachbarten Bezirken Oberösterreichs und Salzburg und den benachbarten Landkreisen in Bayern ist kleiner, trotz Rekordzahlen auf der österreichischen Seite. Bieten Berge einen besseren Schutz vor SARS-CoV-2 als Fließgewässer?

Ohne Kontaktreduktionen für alle werden wir den Reproduktionsfaktor nicht ausreichend senken. Die Abstandsregeln sollten auf den 30. Juni 2021 zurückgesetzt werden, sie wurden am Tag danach (1. Juli) aufgehoben. Den Rest kennen Sie zur Genüge. Das L-Wort (spoiler: es ist nicht „Leadership“), am 11. September auf der Müllhalde abgelegt. „Anything goes“ kann jetzt aber nicht den Weg aus der Pandemie weisen. Eher Karl Poppers „kritischer Rationalismus“. Ganz zentral wäre jetzt echtes Leadership, weil so am besten geändertes Verhalten erreicht werden könnte. Man wird wohl noch Wünsche haben dürfen.« R. Z.

Teil 2 folgt am Montag.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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