Die Vierte Covid-Welle türmt sich auf. Und wir erlauben immer noch Wohnzimmertests

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 558

Armin Thurnher
am 27.10.2021

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Heute zeigt Epidemiologe Robert Zangerle, wo wir stehen: fast am gleichen Punkt wie im Vorjahr. Er räumt mit der Legende auf, Österreich sei „besser durch die Pandemie gekommen als die meisten“. Er kritisiert, dass wir noch immer Wohnzimmertests für Besucher und Behandlerinnen von Patienten mit schwerer Immunschwäche erlauben. Und er hat eine positive Perspektive für mich, den Impfling (Anmerkung: Ich bin dran, mal sehen, ob es mir gelingt, Zangerles guten Rat zu befolgen).

»Zumindest Leserinnen und Leser der Seuchenkolumne sind über die gerade sich auftürmende „Vierte Welle“ weder erstaunt oder gar von ihr überrascht. Es war immer klar, es kann schnell gehen, wenngleich vieles unklar bleibt, etwa wie hoch wird der „Peak“ werden wird und ob die Bevölkerung in der Lage sein wird, ihr Verhalten bezüglich Übertragung von SARS-CoV-2 so zu ändern, dass keine einschneidenden Maßnahmen getroffen werden müssen.

Nach Modellen, die verschiedene Szenarios beleuchten (das sind keine Prognosen!) ist fast alles möglich, außer, dass die Pandemie in den nächsten Monaten leicht zu schultern sein wird. Besonders unsicher sind nicht nur Einschätzungen über das Verhalten gegenüber der Übertragung, sondern Aspekte um die Impfung gegen Covid. Wird die Impfrate doch noch steigen? Sind wir in der Lage, die dritte Impfung entsprechend zu verteilen, um die abnehmende Immunität während des Winters zu konterkarieren?

Verhalten

  • Zahl der Kontakte (mit vielen Personen interagiert man durchschnittlich pro Tag)

  • Präventives Verhalten (z.B. Tragen von Masken)

  • Besonders kritisch: Bildung von Kontakt-Netzwerken (Wiederaufnahme „präpandemischer“ Kontakte und gar darüber hinaus?)

Impfung

  • Impfrate

  • Dritte Impfung (zusätzliche Dosis und Booster)

  • Abnehmende Immunität

Herbst und Winter sollen in einer der nächsten Kolumnen besprochen werden. Besonders Neugierige (und Kundige!) können ein rezentes Dokumentder Scientific Pandemic Influenza Group on Modelling, Operational sub-group (SPIM-O) aus England studieren, dort werden verschiedene Szenarios bis weit ins Jahr 2022 intensiv ausgeleuchtet. Je nach Perspektive könnte man zum Schluss kommen, dass es eine Menge an Unsicherheiten gibt und die Zukunft der Pandemie offen ist, oder anders formuliert, welchen Weg die Pandemie gehen mag. Unser Verhalten und unsere Wahl werden jedenfalls einen entscheidenden Einfluss darauf haben.

Die Herbst-/Winterwelle rollt wie erwartet an. Die folgende Grafik zeigt Veränderungen im Wachstum der Covidfälle in den verschiedenen Ländern Europas im Vergleich zu einem Monat vorher.

Erfreulich und überraschend waren die in ganz Westeuropa beobachteten Rückgänge im Infektionsgeschehen. Anfangs war man geneigt dies vor allem mehr den Folgen der 3-G-Regel („Zertifikationspflicht“) und den Impfquoten zuzuschreiben, eine prominente Rolle dürfte jedoch der Rückgang der Reiserückkehrer ausmachen. Besonders eindrucksvoll konnte man das am Rückgang der täglichen Krankenhausaufnahmen in der Schweiz sehen. Insgesamt war der Rückgang an Covidfällen in Österreich im Vergleich sehr schwach. Um einen zuverlässigen Vergleich mit anderen Ländern zu machen, müsste man sich die Positivitätsrate (Prozent positiver Tests) anschauen. Diese wird in Österreich seit Anfang des Jahres nicht mehr in ihrer eigentlichen Art ermittelt. Die Positivitätsrate wurde in Österreich seit Beginn der Pandemie als Indikator für das Infektionsgeschehen vernachlässigt. Aber seit Anfang des Jahres schmeißt man einfach alle Indikationen zum Test zusammen: die öffentlichen Screenings mit Antigentests und die Tests zur Abklärung von Kontakten und symptomatischen Personen landen im gleichen Topf.

Deshalb sind in der nächsten Grafik die Zahl der belegten Betten auf den Intensivstationen (links) und die Zahl der Todesfälle (rechts) im Vergleich zu unseren westeuropäischen Nachbarn und dem bis zur Covidimpfung als Impfmuffelland verschrieenen Frankreich dargestellt. Österreich hebt sich da negativ ab. Österreich war und ist deshalb tatsächlich gefordert, besondere Schritte zu setzen.

Das European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) warnte in einem Rapid Risk Assessment vom 30. September  vor dem hohen Risiko einer kritischen Belegung der Krankenhäuser bis Ende November besonders bei Impfraten bis 65%, also bei Ländern wie Österreich. Im linken Teil der nachfolgenden Grafik werden unterschiedliche Szenarien modelliert, immer unter der Annahme, dass die Kontakte so bleiben wie Ende September. Bei den Rechtecken in blau ist die simulierte Krankheitslast unter 33% der maximalen Belastung vom Herbst 2020, bei den gelben Rechtecken liegt die modellierte Rate zwischen 33% und dem Maximalwert der Krankenhausbelegung, und die roten Rechtecke resultierten in den Modellen als eine Krankenhausbelegung über dem Maximalwert vom letzten Herbst. Entgegen dem häufig verspürten allgemeinen Empfinden ist diese Gefahr also keineswegs gebannt.

Diese modellierten Projektionen sind für drei Höhen an Impfraten (vollständig geimpft) berechnet worden. Für die insgesamt 11 Szenarien wurden verschiedene Parameter herangezogen, wie Wirksamkeit der Impfungen gegenüber Covid Fällen (66% – 76%), schweren Erkrankungen (74% – 90%), hohe (6x erfasste Infektionen) oder niedrige (1,7 x erfasste Infektionen) Immunität aufgrund durchgemachter Infektionen und die Saisonalität (siehe Tabelle; VE = vaccine effiectiveness). Während die Impfraten gesteigert werden könnten, sind andere Parameter nicht veränderbar.

Diese 11 verschiedenen Szenarios wurden dann zu einer einzelnen Kategorie zusammengefasst und als Kreis bildlich dargestellt. Der rechte Teil der vorvorigen Grafik zeigt die Last der Krankenhäuser als Kreise in blau („manageable risk’’), gelb, erhöhtes Risiko und rot, hohes Risiko je nach Impfrate und Veränderungen in der Kontaktrate gegenüber Ende September. Diese Szenarien zeigen klar, dass Länder wie Österreich nicht nur die Impfrate steigern müssen, sondern auch die Kontaktrate senken müssen, um die Belegung der Krankenhäuser im November unter dem Niveau vom letzten Herbst halten zu können.

Ein Vergleich der 7-Tagesinzidenzen der verschiedenen Altersgruppen am 25. Oktober 2020 und 2021 zeigt, abgesehen von der massiv erhöhten Inzidenz der 5-14-jährigen, vergleichbare Inzidenzen, selbst bei der älteren Bevölkerung ist der Unterschied nicht wesentlich anders als im Vorjahr (also liegt eine extreme Verbreitung unter den Ungeimpften vor). Dies wird zwar wahrgenommen, aber nicht in diesem starken Ausmaß, eben weil das Exponentielle gegen jede Intuition ist.

Und tatsächlich ist der exponentielle Anstieg derzeit bei der älteren Bevölkerung am höchsten, der effektive Reproduktionsfaktor Reff liegt bei 75-84-Jährigen bei 1,33, bei über 84-jährigen noch bei 1,25 und in der Gruppe der 5-14-Jährigen, also die mit der am Abstand höchsten Inzidenz, bei 1,22. (Der Unterschied besteht in der Verdoppelungszeit. Sie ist etwa eine Woche kürzer, ungefähr zwei Wochen gegenüber drei Wochen).

Wenn man den Verlauf des Reproduktionsfaktors vom 20. Juni bis zum jetzigen Zeitpunkt vergleicht, ist die Fluktuation das Verbindende, und der saisonale Effekt im Herbst kommt heuer etwas später. Es kann nur gemutmaßt werden, ob da das länger andauernde wärmere Wetter, die 3-G-Regel und/oder die Impfrate dazu beigetragen haben. Der saisonale Effekt ist eine höchste komplexe Vermengung von meteorologischen Faktoren und geändertem Verhalten der Menschen aufgrund zunehmend kälteren Wetters. Selbst die meteorologischen Faktoren UV-Strahlung, Temperatur und Feuchtigkeit, welche die Beständigkeit des SARS-CoV-2 in Tröpfchen und Aerosolen beeinflussen, sind unter sich komplex verzahnt. Der saisonale Effekt auf die effektive Reproduktionsrate wird mit einer Steigerung von 30-50% angegeben. Bei einem zwischenzeitlichen Reff von knapp unter 1 käme man so auf einen Wert von 1,25-1,50 (Verdoppelungszeit entsprechend von etwa 3 Wochen und einer guten Woche!). Der Wert bildet das zurückliegende Infektionsgeschehen von vor gut einer Woche ab. Es besteht also wirklich dringender Handlungsbedarf.

Die 3-G-Regel am Arbeitsplatz hätte auch früher kommen können. In der Seuchenkolumne wurde die 3-G-Regel zum ersten Mal am 11. September urgiert. Damals war das Hauptmotiv die Absurdität der Gültigkeit der 3-G-Regel für die von außen Eintretenden, aber die fehlende Gültigkeit für die im System Arbeitenden (Gastronomie, Pflegeheime, Krankenhäuser und andere).

Die 3. COVID-19-Maßnahmenverordnung – 3. COVID-19-MV, welche die 3-G-Regel am Arbeitsplatz regelt, wurde am 25. Oktober kundgemacht. Sie gilt ab 1. November, manches erst ab 15. November, wie die Wirksamkeit der 3-G-Regel bei den Berg- und Zahnradbahnen. Gleichzeitig wurde auch eine rechtliche Begründung der 3. Covid Maßnahmen Verordnung verlautbart, um nicht allzu viele Interpretationen zuzulassen.

Die Notwendigkeit für Österreich, zu handeln hoffe ich zuvor klar gemacht zu haben. Ehe ich mit juristischer Hilfe die Verordnung unter die Lupe nehme, muss ich zwei Aspekte dieser Verordnung herausgreifen, die einer Korrektur bedürften: Erstens sollte die Gültigkeit der einmaligen Janssen Impfung nicht auf 270 Tage Gültigkeit begrenzt sein, sondern nur auf (60) -90 Tage! Und zweitens gehört der Wohnzimmertest (in der Schweiz „Badschränklitest“) als Zugangsregelung gestrichen. Der Wohnzimmertest wurde für einen anderen Zweck eingeführt, in der damals weitgehend ungeimpften Bevölkerung sollte er viele Infizierte finden und Ansteckungsketten brechen. Heute geht es aber oft nur mehr darum, möglichst bequem und günstig die 3-G-Regel zu erfüllen (das „Zertifikat“). Dabei müsste es das Ziel für einen Zugang sein, genau zu wissen ob man angesteckt ist oder nicht. Es kann nicht angehen, dass jetzt, wo sich die „4.Welle“ auftürmt, wir immer noch Wohnzimmertests für Besucher und Behandlerinnen von Patienten mit schwerer Immunschwäche erlauben.

Die Gültigkeit des Wohnzimmertests soll erst ab 7 Tagen Belegung von 300 Intensivbetten erlöschen. Eine schlechte Lösung, selbst wenn diese Belegung vor dem 15. November erwartet werden kann. Die Steigerung der Fälle und sich verstärkendes Infektionsgeschehen nicht nur bei den jüngeren Jahrgängen lassen ab jetzt eine kontinuierliche Steigerung erwarten. Es braucht keine zwei Verdoppelungen mehr, und der Maximalwert vom letzten Herbst in der Belegung der Intensivstationen ist erreicht.

Es bleibt zu hoffen, dass die 3. COVID-19-Maßnahmenverordnung mit der 3-G-Regel für den Arbeitsplatz neben den direkten Maßnahmen auch einen Schalter für präventives Verhalten in der Bevölkerung umlegt. Die vorletzte epidemiologische Seuchenkolumne schloss mit der Hoffnung auf einen Lichtblick: könnte mein Seuchenheiliger, Armin Thurnher, Ende Oktober, 4 Monate nach der 2.Impfung mit Vaxzevria (AstraZeneca) nicht eine Impfung mit einem mRNA Impfstoff erhalten? Nach der 3. Maßnahmenverordnung müssen 120 Tage zwischen der primären Impfserie und einer weiteren Impfung verstrichen sein. Das wäre erfüllt. Es steht nichts im Weg!« R. Z.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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