Deutsche Einheit, Kommunismus und andere österreichische G’schichterln

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 538

Armin Thurnher
am 04.10.2021

Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:

Zum gestrigen Tag der deutschen Einheit, noch immer auch ein Tag der deutschen Binnengrenze, fiel es mir ein. Vor kurzem stellte der deutsche Botschafter  Karten seines Landes auf Twitter, die das Wahlergebnis zeigten und vor allem erkennen ließen, was er so ausdrückte: „Interessant, wie klar die ehemalige innerdeutsche Grenze noch zu erkennen ist.“ Das ist sie, und man könnte wahrscheinlich Grenzen, die von den Religionskriegen gezogen wurden, heute genauso gut erkennen, die Grenzen der Gegenreformation und Grenzen, die noch länger zurückliegen, des römischen Reichs zum Beispiel.

Deutsche Einheit Foto @ Irena Rosc

Bekannt ist, dass jene Gebiete „ethnischer Säuberung“, in denen Bauernaufstände besonders vehement unterdrückt wurden, aus denen Protestanten besonders brutal vertrieben wurden, später zu Kerngebieten des illegalen Nationalsozialismus mutierten. Das sogenannte Kärntner faschistische Grundmandat bei Nationalratswahlen ist so zu erklären, und es war sonnenklar, warum der Jörg Haider sich ausgerechnet in Kärnten seine Basis suchte.

Das einst zu 90 Prozent protestantische Wien war umgekehrt möglicherweise zu einer anderen Art der Opposition gegen die jahrhundertelang herrschende Achse Habsburg-Rom prädestiniert, zum Roten Wien.

So geht es mit den Tiefenströmen der Geschichte, sie fließen unter unseren Gesellschaften jahrhundertelang dahin, prägen Verhaltensweisen und Denkmuster länger als man sich an sie erinnert und bewegen sich in anderem Tempo als die laute, aktuelle Oberfläche. Politik, die mit ihnen operiert oder sie zu handhaben versteht, spielt mitunter ein gefährliches Spiel, oft auch eines, das sie selbst nicht versteht.

Ganz offen hantiert Politik mit solchen Strömen und Ängsten, wenn sie sich auf Grenzen beruft und Grenzen verteidigen will. Gerade ein Land wie Österreich, das sich einerseits historisch als Grenzland definiert, im römischen Reich vor allem gegen die germanischen Barbaren, später gegen Slawen, Mährer, Kuruzzen, Türken, und das andererseits als Vielvölkerstaat eine Vorform der EU darstellte, ist auch heute hin- und hergerissen zwischen seinen Möglichkeiten. Einerseits als Verteidiger eines christlichen Abendlandes nach ungarisch-polnischem Muster und andererseits als Überwinder der alten, reaktionären Idee von völkischer Reinheit nach Altwiener Art.

Auf der Hinterbühne derart zwiespältig, schafft es das publizistisch-politische Personal unserer Theaternation jederzeit, im Vordergrund Jahrmarktszauber zu entfalten, Taschenspielertricks vorzuführen und die Menge und sich selbst zu blenden. Die ökologische Steuerreform zum Beispiel. Vom Namen ein Posaunenstoß, vom Klang ein Pfiff um die Ecke. Oder die Bekämpfung der Pandemie. Erinnern Sie sich, wie der Bundeskanzler als Impfherold der armen Südostländer auftrat und allein ihretwegen die europäische Union herausforderte? Nun, sie haben noch immer die niedrigste Impfrate und vernichteten teilweise Impfstoff, den sie nicht verimpfen konnten (wenn sie ihn nicht günstig weiterverkauften).

Ein wunderbares Beispiel für historische Taschenspielertricks bietet gerade der Kommunismus in Graz. Der Kommunismus gehört zu den entsetzlichsten Terrorsystemen und kostete Millionen von Menschenleben. Das ist mit nichts zu rechtfertigen, gegen nichts aufzurechnen und durch nichts zu beschönigen. Dass er überall Menschen umbrachte und einsperrte, wie die Schnellankläger sogleich eilfertig erklärten, ist allerdings falsch.

Auch errang die Grazer Kommunistin Elke Kahr ihren Sieg nicht mit Anspielungen auf diese Geschichte, sondern allein mit ihrer menschlichen Politik. Die moralisierenden Instant-Kommunismuskritiker, die jetzt der KPÖ ihre historische Rückständigkeit und ihre Sympathie mit Mördern nachweisen, mögen in jedem kuriosen und peinlichen Einzelfall recht haben, sie sagen damit aber weniger über Kahr als über sich.

In Graz wirkt auch der Grazer Armenpriester Wolfgang Pucher, Gründer der Vinzi-Rast und katholisches Pendant zur Kommunistin Kahr und ihrem Vorgänger Ernest Kaltenegger. Gewänne Pucher eine Wahl, würden ihm die empörten Antikommunisten gewiss ebenso mit Karl-Heinz Deschners Kriminalgeschichte des Christentums entgegenfuchteln, wie sie es jetzt bei Elke Kahr mit dem Schwarzbuch Kommunismus tun.

Wir leben in einer Ära der lebhaften Verfolgung des Zeitgeschehens. Soll heißen, wer sich in dieses begibt, wird verfolgt. Deshalb zum Schluss und zur Erholung eine Geschichte, die in grauer vordigitaler Vorzeit spielt, im Jahr 1977. Es war nach der Palmers-Entführung, an der sich zu meinem Entsetzen mein Nachfolger als Institutsvertreter der Theaterwissenschaft, Thomas Gratt beteiligt hatte, unter dem Kommando deutscher RAF-Terroristinnen. Auch so eine deutsch-österreichische Geschichte. Gratt und ich waren natürlich miteinander bekannt, aber politisch hatte ich mit ihm wenig am Hut, die Autonomie meines Linksseins stellte ich über jede Partei oder Organisation.

Die Institutsvertretung war naturgemäß komplett links dominiert, es gab aber eine Fraktion der reaktionären, von Jungaristokraten geprägten Studentenorganisation JES, die ihre große Stunde witterte und auf einer übervollen Institutsversammlung forderte, die Linken, also wir, sollten sich nicht nur von den Entführern distanzieren, die gerade einmal verhaftet, aber noch lange nicht verurteilt waren. Und nicht nur von ihnen, sondern, wenn wir schon da waren, von ihrer kranken linken Weltanschauung insgesamt.

Der Saal brodelte, es ging hin und her, oben auf dem Podium saß in Ermangelung des inhaftierten Gratt ich und merkte, dass mir die Zügel entglitten. Da kam mir eine Idee. Ich ergriff das Wort, und sagte, während sich gespannte Stille über den Saal legte und die Gesichter meiner Freunde Ungläubigkeit über meinen sich abzeichnenden Umfaller zeigten, folgendes: „Gut. Ich mache Ihnen ein Angebot. Wir sind bereit, Ihren Forderung nachzukommen, und uns nicht nur vom Terrorismus zu distanzieren, was selbstverständlich ist, sondern auch von Thomas Gratt, dessen Schuld noch nicht erwiesen ist, und vom Weltkommunismus insgesamt – unter einer Bedingung“ – die Spannung wurde unerträglich, es war mäuschenstill, nur ich genoss, sie ausdehnend, die Pause – „nämlich unter der Bedingung, dass Sie, meine Damen und Herren von der JES, erklären, die österreichische Bundesverfassung zu respektieren, vor allem, was das Verbot des Tragens von Adelstiteln betrifft.“

Die Spannung entlud sich ein einem riesigen Gelächter, die Versammlung löste sich in Heiterkeit auf und die Sache war, zumindest für die Theaterwissenschaft, die auch schon längst anders heißt, erledigt.

Solch politischer und historischer Kairos war mir seither nicht mehr gegeben. Heute lachen wieder die Verfolger. Geschichte ist selten gerecht.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:

Weitere Ausgaben:
Alle Ausgaben der Seuchenkolumne finden Sie in der Übersicht.

12 Wochen FALTER um 2,50 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!