Neue deutsche Politik: Kolosse des Kompromisses

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 532

Armin Thurnher
am 28.09.2021

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Denk ich an Deutschland in der Früh,

so hab ich meine liebe Müh.

Gähnend zu so früher Stunde

mütz ich lieber noch ’ne Runde.

Die Jahre kommen und vergehn!

Da ich nur Mutti hab gesehn.

Sechzehn Jahr sind hingegangen;

Es wächst mein Sehnen und Verlangen.

Mein Sehnen und Verlangen wächst.

Die alte Frau hat mich behext,

Ich denke immer an die alte,

Die alte Frau, die Gott erhalte!

Doch ist sie fort, so wollt es Gott,

was bleibt, ist Schande nur und Spott.

Auf Twitter sudert Norbert Bolz

und Kanzler werden will Herr Scholz.

Falls ihn nicht zuvor stellt und haschet

die Lusche namens Armin Laschet,

angestachelt, geht’s noch öder,

vom Star des Südens, Markus Söder.

So dichtete es aus mir auf den Spuren von Heines Gedicht und hätte munter fortgedichtet, wäre es mir nicht zu blöd geworden, ehe ich Reime auf Baerbock und Lindner suchen musste. Politisch sind diese Tage, aber es ist eine neue Art von Politik. Ich weiß nicht, ob ich sie mag. Nein, ich mag sie nicht.

Es beginnt damit, dass ein Wahlsieg nichts mehr bedeutet. Er wird, wie das meiste, flott in sein Gegenteil umgedeutet. Es kommt nicht darauf an, wer eine Wahl gewinnt, es kommt darauf an, wer die Gunst der Stunde für sich nutzt. Es passiert nicht so aggressiv wie bei Donald Trump, niemand spricht von Wahlbetrug, aber noch am Wahlabend sollte der Wahlsieger Scholz live im TV um seinen Sieg gebracht werden, damit der Wahlverlierer Laschet doch noch Bundeskanzler werden kann.

Screenshot @ orf.at

Wenigstens ließ sich Scholz nicht aus der Reserve locken. Er besteht ja ganz aus Reserve, er ist die fleischgewordene Reserve. Deswegen wurde er gewählt, weil er am besten dem entsprach, was sich das deutsche Wahlvolk unter Merkel-Reserve vorstellte: seriös, beschwichtigend und wellenglättend.

Frau Merkel scheint bereits überlebensgroß, obwohl sie noch regiert. Es gehört zu den nicht genannt werden sollenden Elefanten im Raum, dass sie der CDU die Kanzlerschaft verlor, weil sie ihren Nachfolger nicht rechtzeitig installierte und ihn so um den Amtsinhaberbonus brachte. Ich bin ja insgesamt froh um Merkel, weil sie eine Politikerin der europäischen Zurückhaltung war und uns vor Autoritarismus und Aktivismus bewahrte. Doch ist auch ihre europäische Bilanz nicht nur voller Glanz (man denke nur an Schäublenomics und das griechische Leid, auch den Brexit konnte sie nicht verhindern). Immerhin hielt sie der autoritären Versuchung vernünftig stand, was wir hier, Komparsen in der kurzistischen Operette, zu schätzen wissen.

Jedenfalls erblicken wir nicht nur blühende politische Landschaften, wenn wir nach Deutschland blicken. Es sei eine neue politische Landschaft, mit der wir es zu tun hätten, sagt der Grüne Robert Habeck, mit dem an der Spitze die Grünen gewiss jene sechs oder sieben Sitze mehr gewonnen hätten, die einen echten Politikwechsel ermöglicht hätten. Der zweite Elefant im Raum, über den man achselzuckend hinweggeht: das Versagen der Annalena Baerbock, die diese historische Chance verspielte, indem sie sich identitätspolitisch legitimiert an die Spitze der Grünen stellte.

Die neuen Landschaften liegen allesamt im Schatten des unmöglichen Kompromisses. Merkelismus ohne Merkel, das ist die Aufgabe der Stunde, und im Mittelpunkt steht ein Mensch, den Bruno Kreisky als Sphinx ohne Rätsel bezeichnet hätte, FDP-Chef Christian Lindner. Ein Mensch, der das neoliberale Mantra rhetorisch so sauber herunterbetet, dass Franz Schellhorn ihm täglich ein Kerzlein anzündet. Erstens Steuern senken, zweitens das Klimadings mit dem Markt regeln und drittens die Schuldenbremse in Beton gießen, wer so proper die Dreieinigkeit des ökonomische Schwachsinns referiert, der ist jetzt der Torwächter der politischen Macht.

Olaf Scholz kann einem leid tun. Was hat Scholz richtig gemacht? Nichts. Was hat er falsch gemacht? Auch nichts. Ein Geheimrezept der neuen großen Politik. Was macht er jetzt? Jetzt macht Scholz Tempo. Der österreichische Chef-Auslandsberichterstatter sprach vor Ehrfurcht ganz langsam, als er davon berichtete. Die Ampelkoalition, die Scholz nun bilden möchte, sieht er als „Fortschrittserzählung“, war zu lesen. Radikalismus der Mitte, kompromisslos voller Kompromisse, prinzipiell prinzipienlos, dafür ist erzählter Fortschritt ein guter Begriff. Uns kann man ja alles erzählen. Andererseits waren historische Kompromisse oft unvorstellbar mühevoll und folgenreich. Den New Deal zum Beispiel musste Franklin D. Roosevelt mit hässlichen Kompromissen mit den Dixiecrats bezahlen. Übelster Jim-Crow-Rassismus war der Preis für einen neuen, noch immer bewunderten US-Sozialstaat.

„Schnittmenge“ lautet das neue Zauberwort. Die Dringlichkeit der Klimakrise in der pandemischen Gesellschaft erfordert Kompromisse von neuer, ungeahnter Hässlichkeit. Jede Menge Schnitte kommt über uns. So gerät die Post-Merkelsche Konkurrenz der Langweiler doch noch zum Drama. Danken wir Gott, der uns mit Sebastian Kurz straft, aber mit Elke Kahr belohnt, dass wir dabei nur sekundär betroffene Zuschauer sind.

P.S. Das Adjektiv „krachend“ in Verbindung mit Niederlage bitte ich aus den diversen Wortschätzen (kann Armut ein Schatz sein?) zu streichen. Danke.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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