Besuch bei meiner alten Dame

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 530

Armin Thurnher
am 25.09.2021

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Vorgestern war sie mit mir bei der Präsentation des Buchs von Harald Walser. Auch Doris-Knecht-Lesungen lässt sie selten aus. Naturgemäß erregt Mutter Thurnher stets Aufsehen, allein ihrer Erscheinung und ihres rüstigen Zustands wegen. Es ist zwar kein Verdienst, 102 zu sein, wie sie gern und etwas kokett bemerkt, aber es verschafft einem eine gewisse Bekanntheit (ein aufmerksamer Leser schrieb mir, in Vorarlberg lebten nur 99 Personen über 100), man wird in der Zeitung genannt und im Saal extra begrüßt.

Beim Besuch der Schwägerin im sonnigen Spätseptember

Wie hat sie es geschafft, so alt zu werden und in so guter Verfassung zu bleiben? Keine Ahnung. Sie gibt dann doch Auskunft: Mäßigung und regelmäßige Betätigung. Das sind Mutmaßungen.

Noch immer lebt sie allein in ihrem Haus. Ohne die täglichen Besuche meiner Schwester wäre das nicht mehr möglich. Sie kocht auch noch, aber sie hat sich auf die Stelle der Assistenzköchin zurückgezogen, und manchmal, wenn sie sich auf dem Herd ein Brötchen röstet, vergisst sie, abzudrehen. Ist mir, ehrlich gesagt, auch schon passiert. Machen wir halt das Fenster auf.

Der Tod ihres Hundes Cora im vergangenen Jahr hat sich auf ihr Leben ausgewirkt, weniger Bewegung schlägt sich in etwas schwächerer Kondition nieder, aber man kann nicht sagen, dass sie schlecht zu Fuß wäre. Gestern machen meine Schwester und ich mit ihr einen Ausflug ins schwäbische Biberach, samt Stadtrundgang und Besichtigung der berühmten Kirche, seit 1548 von Katholiken und Protestanten bis heute gemeinschaftlich genutzt, ein erstaunliches Denkmal der Ökumene. Eine „Simultankirche“. Als Insasse gegenreformierter Ostgebiete wusste ich gar nicht, dass es so etwas gibt.

Cora und Corona. Corona hat die aufgrund verstorbener Verwandter und Freunde gleichen Alters ohnehin schon reduzierte Geselligkeit noch weiter zurückgedrängt. Sie kann mit Einsamkeit gut umgehen, sagt sie, aber lieber ist sie doch in Gesellschaft. Nach der Walser-Präsentation war sie selbstverständlich mit im Klosterkeller, naschte einen kleinen Teller von meiner Blut- und Leberwurst mit, auch etwas Sauerkraut und Knödel, trank ein kleines Bier. Obwohl sie sonst am Abend wenig oder nichts isst, bekam es ihr nicht schlecht.

Unter Leuten zu sein lässt sie aufleben, früh heimgehen wollte sie nie. Ich gehe doch nicht an meinem Geburtstag um halb elf nach Hause, erklärte sie entrüstet, als alle anderen heuer die Feier um diese Zeit beenden wollten.

Sie mag es übrigens nicht, wenn ich sie „Mutter“ nenne, aber das von ihr gewünschte „Mama“ erscheint mir in der auf der ersten Silbe betonten Form als zu kindlich und in der auf der zweiten betonten , vielleicht gar zu „Maman“ mutiert, zu affig. Sie versucht, alles zu lesen, was ich schreibe. Diesen Satz hättest du dir sparen können, ist ihre vorhersehbare Reaktion auf diesen Satz.

Alles zu lesen, was ich schreibe, macht ernste Schwierigkeiten. Meine Kolumne im Falter kommt einmal die Woche auf Papier. Jetzt aber gibt es diese Seuchenkolumne, und die erscheint nur im Netz. Generationenausschluss. Als Vater noch lebte, schenkte ich den beiden ein Tablet, er aber, mit ungelenken Fingern und zeitlebens Schreibarbeiten an andere delegiert habend, kam damit nicht mehr zurecht.

Mir schien es, dass Mutter, ausgebildete zehnfingertippende und stenographierende Sekretärin am Finanzamt Bregenz (als einzige Frau) damals zurücksteckte, um ihn nicht merken zu lassen, dass sie es schneller kapiert hätte als er. Das war vor mehr als 15 Jahren.

Nach Vaters Tod schenkte ich ihr ein iPad, weil ich bemerkt hatte, dass sie intuitiv darüberwischte und mit dem Fotoprogramm gut zurechtkam (eine Aufgabe, an der bei Apple schon andere gescheitert sind). Sie korrespondierte eine Zeitlang mit einer Freundin in Frankreich, aber es kamen zu wenige Mails, irgendwann gar keine mehr, und nur ab und zu Fotos anzusehen, genügte nicht, um sie digital auf dem Laufenden zu halten.

Jetzt passiert öfters, dass sie beim Lesen der Mails unabsichtlich den Flugmodus aktiviert oder die WLAN-Verbindung deaktiviert. Dann erscheinen keine Texte, und der Frust ist groß, weil sie die Seuchenkolumne nicht lesen kann. „Wäre ich früher so teppert gewesen, hätte ich keine so gute Sekretärin sein können.“ Frustrierend, zu warten, bis Neffe Martin auftaucht und die Verbindung wieder herstellt.

Mutters Tag beginnt mit Kaffee, Brötchen und drei Zeitungen: den Vorarlberger Nachrichten, der Neuen Vorarlberger Tageszeitung und den Salzburger Nachrichten (die kommen ein wenig später). Sie schlägt die Zeitung auf und geht zielstrebig zum Kreuzworträtsel. Der Rest wird dann später gelesen. Schon hat sie den Kuli in der Hand. „Das ist aber ein blödes Rätsel: ,Küsse‘ das soll ,Kissen‘ heißen – das muss ein Oberländer gemacht haben, bei uns sagt man doch ,Kissa‘. Übrigens: Warum hat der Falter kein Kreuzworträtsel mehr? Jede anständige Zeitung hat eines!“

Mögen auch Kurzzeitgedächtnis, Gehör (das lästige Hörgerät!) und Computer-Literacy Wünsche offen lassen, an Schlagfertigkeit fehlt es nicht. „Ich bin 102! Was erwartet ihr von mir?“, sagte sie kürzlich. Wunderdinge!, sagte ich. „Ja, da wartet ihr umsonst!“

Oder über ihr Hörgerät: „ Jetzt muss ich wirklich neue Batterien hineintun. Ich höre ja gar nichts mehr. Ich komme mir schon vor wie Beethoven.“

Ich: „Wie lang hast du das Ding schon?“ – „Es ist mein erstes.“ – „Ich glaube, du brauchst ein neues.“ – „Was kostet das?“ – „Ein paar tausend Euro.“ – „Das ist zu teuer, wer weiß, ob ich nicht nächstes Jahr oder noch schneller sterbe.“ – „Dann hast du wenigstens bis dahin was gehört.“ Sie: „Manchen Leuten ist es vielleicht ganz recht, dass ich nicht alles höre.“

Ich war nach dem Biberacher Ausflug etwas müde und blieb zu Hause. Sie besuchte mit meiner Schwester noch die Lyriklesung einer Bekannten, anschließend wurden Dancing Stars konsumiert, eine der wenigen TV-Sendungen, die ihr noch gefallen.

Morgen ist mein Besuch vorbei. Schauen wir, wie sich die Telefongespräche gestalten.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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