„Null Afghanen“ ist die neue Balkanroute. Über politische Sprüche und Widersprüche

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 512

Armin Thurnher
am 03.09.2021

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„Wir sind Realisten, wir reden mit den Taliban.“ Ich kann mir gut vorstellen, wie Schall- und Rauchenberg den Kopf wiegt und im Kreis der EU-Außenminister Realismus einmahnt. Wie er die sogenannte österreichische Position dort anbringt, sähe ich allzugern. Ob er den Gesichtsausdruck aufsetzt „Ich-muss-euch-leider-die-Ballhausplatz-Hinterzimmer-Strategie-vortragen“, der sich jeder fügt, der in dieser Regierung sitzt, oder ob er sich expressis verbis dafür entschuldigt, Nonsens vorbringen zu müssen. Ob sie dort offen reden, oder ob sie auch Diplomaten bleiben, wenn die Öffentlichkeit ausgeschlossen ist – es würde mich nur interessieren, weil ich ja an der neuen österreichischen Staats-Operette arbeite.

Die Szene mit Nehammer im Kreis der Innenminister schwebt mir als Ballett der muskulösen Kerle klar vor Augen. Den Mühen dieses Kraftlackels, sich als Hardliner hinzustellen, sieht man das Exerzieren bei Dutzenden Corona-Pressekonferenzen an. Er kann sich überwinden, und zwar so gut, dass man es nicht für möglich hält, dass er sich nicht überwindet. Nehammer lässt die Kaumuskeln spielen und zwingt sich, zu glauben, was er zu sagen hat.

Srceenshot @ Bild TV

Nur bei Sebastian Kurz habe ich keine Zweifel. Er benimmt sich so locker, als säße er als Influencer im Studio von Bild-TV. Je mehr der Springer Konzern in den Händen von Matthias Döpfner globale Ausmaßen annimmt (jüngst kaufte er das US-Polit-Magazin Politico), desto sicherer sehe ich eine Karriere von Kurz in diesem Konzern sich abzeichnen. Hier wird zusammenwachsen, was zusammengehört.

Politik und Publizistik gehören zusammen, wie wir wissen, und Kurz setzt beim Regieren mittels Publizistik neue Maßstäbe. Diese ist die kommunikationsbasierteste aller Regierungen, die Österreich je hatte. Oder anders gesagt: nie wurde Österreich je besser am Schmäh gehalten als von Kurz und den Seinen. Das ist in vielfacher Hinsicht fatal.

Ich wurde kritisiert, weil ich meinte, Kurz gehe „über Leichen“. Diese Kritik an mir war nicht sehr explizit, sie schnitt den Zusammenhang weg und den Satz ab, aber solche Klage führen Journalismusopfer immer. Wer sich in Journalismus begibt, kommt darin um.

Ich rede heute nicht von Corona, auf das sich der Leichensatz bezog, sondern vom Thema Migration. Hier könnte man genauso gut drastisch werden, aber ich werde versuchen, das zu vermeiden.

Mein Ärger hatte sich daran hochgerankt, dass Kurz mit der Vermeidung des Corona-Themas hofft, die oberösterreichische Landtagswahl nicht zu stören, deshalb Impfpropaganda aussetzt und so in Kauf nimmt, dass sich weniger Menschen impfen lassen. Für die Folgen gäbe es gewiss juristische Qualifikationen, von unterlassener Hilfeleistung angefangen.

Statt Corona steht aber das Ausländerthema wieder im Mittelpunkt. Corona, das Menschen unmittelbar betrifft und sie auf Intensivstationen bringen kann, Corona betrifft scheinbar niemanden. Afghanistan, das fast so weit wie möglich vom Schuss liegende Land am Hindukusch hingegen: das ist das Zauberwort, das Türkis die Landtagswahl und alle anderen Wahlen gewinnen soll. Wir nehmen null Afghanen auf, das ist die neue Balkanroute.

Mit dem Zauberwort „null Afghanen“ degradiert man die Roten zu wankelmütigen Doppelzünglern. Im Message-Salon Kurz schlug sich auf die Schenkel, als nach dem Sommergespräch von Frau Rendi-Wagner die Schlagzeile übrige blieb, man solle hunderten afghanischen Frauen Asyl gewähren.

Mit dem Zauberwort „null Afghanen“ macht man die Grünen zu Humanitätsdilettanten, denn die rufen „Menschenrechte“ und wollen alle aufnehmen. Alle! Menschenrechte! (Dass die neuerdings gegendert werden, verstehe wer wolle – „Menschen- und besonders Frauenrecht“ hörte ich heute im Radio).

Mit dem Zauberwort „null Afghanen“ hegt man die FPÖ ein und lässt rechts von sich kein Gras wachsen. CSU-Politik, auch wenn der deutsche Innenminister Seehofer, Ex CSU-Chef, die österreichische Migrationspolitik mittlerweile von links kritisiert.

Vor ein paar Tagen las ich in einem Kommentar des Kollegen Georg Renner, der burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doskozil (SPÖ) habe nicht ganz unrecht, wenn er behaupte, all der rechten türkisen Rhetorik stehe eine linke migrationspolitische Praxis gegenüber. In der Tat liege Österreich mit den Flüchtlingen, die es aufnahm, im europäischen Spitzenfeld.

Das stimmt, und hier liegt der Hase im Pfeffer. Die Schlussfolgerung Renners teile ich. Bis auf seinen letzten Satz: „Kluge Politik wäre erstens, das (dass Afghanen kommen und Asyl erhalten werden, Anm.) zu akzeptieren und Vorsorge zu treffen, diese Menschen – auch mit gebotenem Druck – zu integrieren. Zweitens sollten die Sicherheitsbehörden ihre Netzwerke in den wachsenden Communities verstärken, um der grassierenden Kriminalität dort Herr zu werden. Drittens braucht es europäische und internationale Allianzen, um zu einem vernünftigen, nachhaltigen Asylsystem zu kommen, das Schutz ermöglicht und eine Massenmigration hintanhält. Ein Langfristprojekt – bei dem der Wettbewerb um die härtesten Sprüche eher kontraproduktiv ist.“

Eine gute Regierung würde nicht hoffen, ihre Praxis, wie immer sie aussieht, hinter harten Sprüchen zu verstecken. Sie würde wissen, dass harte Sprüche harte Realitäten produzieren. Dass humanitäre Praxis, sollte es sie tatsächlich geben, in verhärteter Mentalität keine Zukunft hat. Harte Sprüche bilden Mentalitäten.

Umgekehrt gilt, solange die Linke keine handfeste Politik hat, die sie in akzeptablen harten Sprüche darstellen kann, wird sie keinen Erfolg haben. Es gibt Grenzen der Grenzöffnung. Das nur als halbherzige Präambel vor humanitäre Schwammigkeiten zu stellen, reicht nicht. Bleibt sie vage menschlich, kann sie auch nicht herausstellen, dass eine migrationsfeindliche Politik nur den unmittelbaren Interessen einer herrschenden Clique dient, nicht aber den langfristigen Interessen eines Staates.

Was wiederum nicht bedeutet, sie solle hier nur utilitaristisch argumentieren, also Migrationspolitik bloß mit ökonomischem Nutzen begründen. Was hieße es konkret, Menschen „mit gebotenem Druck“ zu integrieren, und was hat die Regierung Kurz dafür geboten, außer ideologisch verhärteter Hilflosigkeit? Darauf braucht eine wählbare Linke Antworten. Harte Sprüche.

Es ist alles sehr kompliziert, denn ja, harte Sprüche sind kontraproduktiv, weil mentalitätsverhärtend. Ohne harte Sprüche wird es dennoch nicht gehen, denn an ihnen sollt ihr sie erkennen. Diese müssen halt aus hartem politischen Realismus kommen: nicht aus dem Versuch, die Trickster rechts zu überholen oder noch trickreicher auszutricksen. Sondern einerseits als harte Spruchkritik an der herrschenden Sprüchemacherpraxis. Andererseits als Gegensprüche aus der Kunst maximal möglicher Humanität als Haltung einer politischer Führung. Humanität statt Trickbetrug, darunter geht es nicht. Dazu muss man mit zumutbaren politischen Ideen beginnen, nicht mit Sprüchen, hinter denen man seine Politik tarnt, was immer diese ist.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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