Diese Kolumne kommt ohne Nennung des Namen Kurz aus. Aber nicht ohne ihn.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 511

Armin Thurnher
am 02.09.2021

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Auf den in jeder Hinsicht verachtenswerten Terroranschlag auf die verzweifelten, am Flughafen in Kabul auf ihre Ausreise wartenden und vor den Taliban und dem sicheren Tod flüchtenden Menschen folgte ein auf ganz andere Weise erschreckender Augenblick: Der Präsident der USA, Joe Biden, stellte sich vor die Öffentlichkeit und schwor mit tränenerstickter Stimme Rache.

Man werde den Attentätern nicht vergeben, man werde sie jagen und töten.

Ich habe sicher die vielen Kommentare übersehen, die sich mit diesem Spruch auseinandersetzten. Mir fiel es schwer, damit umzugehen. Das Entsetzen über die mehr als hundert Toten überwog. Aber die Reaktion Bidens war eine Katastrophe anderer Art. Ein strammer rechter deutscher Sozialdemokrat, der damalige Verteidigungsminister Peter Struck, hatte einst den deutschen Einsatz in Afghanistan mit dem zynischen Satz begründet, die Demokratie werde nun am Hindukusch verteidigt.

Wir, der demokratische Westen, setzten dort unsere Modernität gegen die Steinzeit. Wir taten das, nachdem der sowjetische Kommunismus in Afghanistan gescheitert war (und ein wenig, um das kommunistische Regime endgültig von der Macht zu entfernen). Was geschah zwanzig Jahre später? Die Steinzeit hat gesiegt, wir haben ihren Vertretern, den Taliban, wie schon dem IS, noch moderne militärische Ausrüstung überlassen (den globalen Rüstungsmarkt ausgeweitet) und nehmen nun das Gespräch mit den Steinzeitmenschen auf, damit sie uns gestatten, unsere modernen, demokratischen Prinzipien partiell aufrechtzuerhalten.

„Sattelzeit“ ist ein Hilfsausdruck für die Zeit, in der wir uns befinden. Er soll bedeuten, dass sich die Zeiten grundlegend ändern, weil eine Ära in die andere umschlägt. Was kommt nach der sozialstaatlich orientieren, repräsentativ-demokratischen Nachkriegsmoderne, von der George W. Bushs Republikaner noch eine Art Nachglanz zu sein schienen, mit seinem „compassionate conservativism“, den er gern im Mund führte? In Wahrheit war er nicht nur ausführendes Organ neoliberaler Kräfte, die privatisierten, was ging, gerade auch die Streitkräfte. Er war auch ein Opfer familiärer Rachegefühle und einer persönlichen Hilflosigkeit nach 9/11. Er gab dem Gefühl nach, er müsse etwas tun, und führte die USA nicht nur nach Afghanistan, sondern in den fatalen Krieg gegen den Terror, eine Schnapsidee von Anfang an. Terror bekämpft man nicht mit Krieg; tut man es, akzeptiert man ihn als Partner des Staates auf Augenhöhe.

Bidens Statement, dachte ich, bildete einen unwürdigen Schlusspunkt, nein eine unwürdige Fortsetzung dieses Denkens. Es war biblisch; es war steinzeitlich. Rache ist nicht Rechtsstaat. Die einzige adäquate Reaktion eines Demokraten auf einen Terroranschlag zeigte der Welt einst der norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg, ein Sozialdemokrat. Der Terrorist Anders Breivik hatte am 22. Juli 2011 in Oslo und auf der Ferieninsel Utøya 77 Menschen, meist Jugendliche getötet. Unter Tränen sagte Stoltenberg, der Täter werde es nicht schaffen, Norwegen von seinen rechtsstaatlichen Prinzipien abzubringen. Norwegen bleibe eine offene Gesellschaft. Der Terrorist Breivik hatte in seinem wirren, 1500 Seiten umfassenden „Manifest“ naturgemäß davon gesprochen, er verteidige „westliche Werte“.

Stoltenberg wurde später Nato-Generalsekretär, aber das ist eine andere Geschichte. Sein Verhalten und seine Sätze waren historisch; leider blieb ihre Beispielwirkung beschränkt. Wir brauchen Menschen in öffentlichen Ämtern, die so denken, handeln und sprechen wir Stoltenberg, nicht wie Biden oder jene kläglichen Figuren, denen zwar nicht der Papp ins Hirn gestiegen ist, wie dies eins ein freiheitlicher Politiker unnachahmlich formulierte, aber etwas ähnliches, nämlich ein Brei, der nur aus ihren eigenen Interessen besteht.

Sie sind sich selbst ins Hirn gestiegen und machen Egopolitik, eine Variante des neuen Egoismus, der die Welt regiert. Auch Bidens Spruch war in gewisser Weise ein Ausfluss davon. Er meint, Stärke zeigen zu müssen, denn innenpolitisch wehrt er sich gegen Trump, der seine Wiederauferstehung mit allen Mitteln betreibt und Bidens Präsidentschaft schon bei den Midtermelections zum zweijährigen Intermezzo degradieren möchte.

Als ich vor langer, langer Zeit, vor 54 Jahren, mein Jahr in Amerika verbrachte, war Lyndon B. Johnson Präsident. Er war den revoltierenden Jugendlichen verhasst, weil er den Vietnamkrieg nicht beendete und eine Generation nach Vietnam in den Tod schickte. Aber Johnson hatte auch andere Seiten. In meinem Amerikaroman beschreibt das dem Ich-Erzähler sein Freund Bruce, ein Exponent der Anti-Vietnam-Linken.

»Was habt ihr Leute gegen Johnson, frage ich Bruce. Ich dachte immer, das sei ein liberaler Präsident, vielleicht der liberalste von allen?

Ja, sagt Bruce. Er hat gut angefangen. Unterschrieb den Voting Rights Act, vor genau zwei Jahren. Er gab der Bürgerrechtsbewegung nach. Vor zwei Jahren, als Martin Luther King, Harry Belafonte, Joan Baez, Paul Newman, Mahalia Jackson und 30.000 andere auf die Straße gingen. „How many roads must a man walk down, before you can call him a man“, sangen sie, und auf der Straße von Selma nach Montgomery bekam das einen neuen Sinn. Johnson ließ sie mit Bundestruppen vor der lokalen Polizei schützen. Die ist im Bund mit dem Ku-Klux-Klan und anderen Rassisten. Sie foltern, erschlagen, verbrennen Bürgerrechtler. Johnson selbst ruft im Kongress: „And we shall overcome.“

Ich habe davon gehört, weiß aber nichts Näheres. Nichts von den Brutalitäten der Weißen, die in den Südstaaten mit Gewalt und Mord Schwarze aus Universitäten fernhalten und sie mit allen Mitteln daran hindern, sich zum Wählen registrieren zu lassen.

Johnson erklärte öffentlich, sagt Bruce, seine Unterschrift unter den Voting Act würde die Demokraten auf Jahrzehnte hinaus die Stimmen des Südens kosten. Als Texaner musste er es wissen.

Und trotzdem hat er ihn unterschrieben, sage ich. Nicht viele Politiker würden so etwas tun!«

Heute schwört der Präsident der USA öffentlich Rache, während im Bundesstaat Texas Wahlreformen beschlossen werden, die versuchen, das Rad der Zeit wieder vor 1965 zurückzudrehen. In Europa versuchen welche, das Konzept der Menschenrechte zu relativieren und humanitäre Hilfe als etwas zu definieren, das vor allem woanders stattfindet und von anderen getragen wird. Die Feinde der demokratischen Idee bezeichnen sich als ihre Verteidiger und erlangen damit demokratische Mehrheiten.

Welcher Papp steigt uns da ins Hirn?

(Fortsetzung folgt)


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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